Mannheim. Deniz Undav ist in ungefähr das, was man im besten Sinne als ungeschnitzt bezeichnen darf: Dem 27-Jährigen ist anzumerken, dass ihn in jungen Jahren kein Medientrainer eines Nachwuchsleistungszentrums in die Finger bekommen hat. Mittlerweile dürfte es zwar jemand versucht haben, wer sich aber nur fünf Minuten mit dem Stürmer unterhält, weiß: Die Mühen wären vergebens. Undav redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Das bringt ihm mitunter auch Ärger ein. Als in der Rückrunde sein VfB Stuttgart und der spätere Meister Bayer Leverkusen gegeneinander spielten, sagte er nach Abpfiff, dass „die beiden besten Mannschaften des Landes gegeneinander gespielt“ hätten. Schöne Grüße nach München waren das. Der FC Bayern stand damals schließlich noch auf Platz zwei. Undav brachte das damals einigen Ärger ein.
Viele aktuelle DFB-Spieler lange unter dem Radar
Vielleicht wäre dem Angreifer das nicht passiert, wenn eben schon in frühen Jahren alles auf die große Karriere hingedeutet hätte. Wenn Berater und Verband ihn darauf getrimmt hätten, nicht anzuecken. War aber eben nicht so: Bis zum Sommer 2020 - im Alter von 23 Jahren - kickte er noch in der 3. Liga für den SV Meppen. Über den Umweg Belgien (Union Saint-Gilloise) und England (Brighton & Hove Albion) landete er vor Saisonbeginn auf Leihbasis in Stuttgart. Als Undav sein erstes Bundesligaspiel bestritt, war er 27 Jahre alt.
Es ist eine von vielen krummen Karrieren, die in diesem Sommer in den Kader der Nationalmannschaft für die Heim-EM mündeten. Robert Andrich - Abräumer im Mittelfeld - wurde mit 25 Jahren Bundesliga- und mit 29 Jahren Nationalspieler. Niclas Füllkrug ist zwar bereits seit der WM 2022 dabei, pendelte aber auch lange zwischen 2. und 1. Liga und debütierte mit 29 Jahren. Maximilian Mittelstädt ist zwar schon länger im Bundesligageschäft, rangierte aber lange völlig unterhalb des Radars und stieg vergangene Saison mit Hertha BSC ab. Erst mit 27 Jahren schaffte er den Schritt ins Rampenlicht. Chris Führich wiederum - Undavs und Mittelstädts Mitspieler aus Stuttgart - wurde in der Jugend von Borussia Dortmund, Schalke 04 und dem VfL Bochum für zu leicht befunden.
Undav wurde in der Bundesligasaison immer besser, je länger sie dauerte
Jetzt stehen alle im deutschen EM-Aufgebot, während langjährige Idole wie Leon Goretzka oder Mats Hummels das Turnier von der Couch aus verfolgen müssen. Das ist durchaus gewollt von Bundestrainer Julian Nagelsmann, der mehr als seine Vorgänger auf den Moment und die Formstärke setzt: Undav, Mittelstädt und Co. erleben bislang den Sommer ihrer Karriere - und sollen ihn nun krönen. „Die Spieler sollen mit dem Funkeln in den Augen spielen“, sagte Nagelsmann bei der Nominierung im März. Diesen Willen sieht er bei den Neuankömmlingen offenbar eher als bei etablierten Spielern. Dabei kommt Undav auch zugute, dass er spielt, wie er spricht: unkonventionell.
Das sieht auch der Stuttgarter so. „Ich denke, ich bin für einen Gegenspieler schwer zu greifen. Ich mache Dinge, die nicht unbedingt erwartbar sind. Und ich spiele 20-mal besser, wenn ich Spaß habe.“ Der Spaß dürfte bei Undav nicht zu kurz gekommen sein in der vergangenen Spielzeit. 18 Tore gelangen ihm in seiner Premierensaison in der deutschen Fußball-Beletage - und das, obwohl er den Saisonstart verletzt verpasst hatte und danach erst mal als Einwechselspieler zum Einsatz gekommen war.
Keine Eifersüchteleien, kein Frust bei Füllkrug und Co.
Je länger die Saison dauerte, desto besser kam er in Fahrt, desto größer wurde die Lockerheit des Instinktfußballers. „Ich weiß genau, wenn ein Spiel erst mal läuft, was ich zu machen habe.“
Ein anderer Vorteil der Spätberufenen aus Nagelsmann-Sicht: Die Chancen, dass Undav und Co. damit hadern, auf der Bank zu sitzen, tendieren gegen Null. Füllkrug - immerhin Finalist der Champions League - sagte zum Konkurrenzkampf mit Kai Havertz : „Ich gönne ihm jedes Tor.“ Schließlich erhöhe jeder Treffer die Chance, dass die EM-Karriere des 31-jährigen Stürmers weitergehe - im Gegensatz zur kurzen WM, bei der nach der Vorrunde Schluss war. Viele Folgeturniere dürften in Füllkrugs Karriere schließlich nicht mehr kommen.
Selten war die klare Rollenverteilung im Aufgebot so wichtig wie dieses Mal
Nagelsmann war es im Vorfeld des Turniers wichtig, klare Rollen für jeden Spieler zu definieren. Ob man Stamm- oder Ersatzspieler ist, wissen die allermeisten der 26 Akteure - und müssen diesen Umstand akzeptieren. Rollen waren beim DFB selten so wichtig wie dieses Mal.
Ist das nun ein Garant für eine gute Leistung der Mannschaft? Vielleicht. Letztlich kommt vieles wie immer auf eine einfache Formel zusammen: Recht hat, wer Erfolg hat. Undavs Rolle könnte die des chaotischen Elements in der Offensive sein, des ungeschnitzten Unruhestifters. „Wenn ich drei Fehler mache, bin ich überzeugt: Beim vierten Mal klappt es.“ Recht behielt er bekanntlich mit der These, dass Leverkusen und Stuttgart die beiden besten Teams der Saison waren. Zum Saisonende überholte der VfB die Bayern noch.
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