SV Obrigheim – AV Speyer 934,5:947,1
„Reißende“ soll man nicht aufhalten, dachten sich wohl die Betreuer des AV Speyer. Und so gewährten sie ihren Kolossen freien Entscheid. Es lag an Alexej Prochorow, 135 Kilo schwer, und Peter Nagy, mit 155,9 Kilo der schwerste Mensch, der je in der Obrigheimer Neckarhalle sporttreibend auf der Bühne stand, den Rückstand von 6,2 Relativpunkten im Reißen wettzumachen. Die Superschweren mussten – zusammen – um eigentlich läppische sieben Kilogramm steigern, damit ihr Team 1:0 in Führung geht.
Statt sich die Last zu teilen, bestellte Nagy gleich mal 184 Kilo. Er wollte in einem Ruck den Siegpunkt sichern. Aber der Ungar wankte, die Hantel fiel. Also musste Prochorow nach zuvor bewältigten 180 auf jetzt 187 Kilogramm gehen. Auch ihm entglitten die vielen Pfunde – und dem AV-Anhang die Gesichtszüge. „Das hätten wir besser machen können“, sagte später Teamkollege Almir Velagic, der nach einer Operation nur als Betreuer dabei war.
Das Missgeschick der Gäste versetzte die Mehrzahl der rund 1000 Zuschauer in fröhliche Stimmung. Einen Punkt hatten sich die Obrigheimer Gewichtheber im Spitzenduell gegen den Serienmeister aus der Pfalz zumindest gesichert. „Im Stoßen ist Speyer so stark, das können sie gar nicht verlieren“, prognostizierte Trainer-Urgestein Rolf Feser.
Er sollte recht behalten. Am Ende hieß es 2:1 – Speyer gewann das Stoßen und die Zweikampfwertung – und nach Relativpunkten 947,1:934,5 für die Gäste.
Dennoch sah man auch beim unterlegenen SV Obrigheim strahlende Gesichter. „Ich bin nicht zufrieden“, sagte Teamchef Manuel Noe, „sondern richtig stolz auf diese Jungs. Das war von beiden Mannschaften Werbung für unseren Sport.“
Ein Favoritensturz hätte gelingen können, wenn Gheorghii Cernei aufgelaufen wäre. Es blieb beim Konjunktiv: Der Rumäne hatte wegen einer im Training erlittenen Verletzung abgesagt. Damit fehlten Obrigheim rund 30 eingeplante Punkte. „Sonst hätte sich Speyer noch mehr strecken müssen“, sagte Noe nach einem lange Zeit dramatischen Duell, in dem der Spanier Alejandro Gonzalez mit 171 Punkten einen starken Einstand gab.
Bester unter allen 14 angetretenen Athleten war Nico Müller. Der 75,5 Kilo schwere Athlet wiederholte seine Zweikampfleistung, die er bei der Weltmeisterschaft in den USA erzielte hatte: 333 Kilo. Allein im Stoßen schaffte er mit 183 Kilo das 2,4-fache seines eigenen Gewichts, lieferte einen fehlerfreien Auftritt und ließ sich nichts von der Enttäuschung anmerken, die sein deutlich unter den Erwartungen gebliebenes Abschneiden bei der WM verursachte. „Ich hatte heute schon beim Aufwärmen ein gutes Gefühl. Wahrscheinlich wären sogar ein paar Kilo mehr drin gewesen“, so Müller.
Eine Einschätzung, die so ähnlich auch auf Matthäus Hofmann zutrifft. Der mit 105 Kilo schwerste Obrigheimer kommt nach seinem Comeback vor zwei Monaten immer besser in Form. „Wenn ich sie besser hinlege, hätte ich 195 Kilo stoßen können“, haderte Hofmann mit seinem Fehlversuch am Ende – aber nur kurz. Es überwog deutlich seine Freude darüber, wieder richtig angreifen zu können.
Auch für Speyers Kapitän Jürgen Spieß, der bei der WM vor zwei Wochen ein Loch im Reißen baute („Ich kann’s mir bis heute nicht erklären“), endete das Jahr versöhnlich. Sechs gültige Versuche, 160 Punkte, eine tolle Kulisse. „Das war ein geiler Wettkampf“, resümierte Spieß. „Aber jetzt muss ich mich ein paar Tage ausruhen.“
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