Doha. Manchmal geht es wirklich um mehr als Fußball. Und dann kann sich sogar die höchste WM-Niederlage der Geschichte anderswo wie ein Sieg anfühlen. So hat die iranische Nationalmannschaft zwar die Auftaktpartie bei der WM in Katar gegen den Mitfavoriten England gleich mit 2:6 (0:3) verloren, doch für weite Teile der Heimat hat das „Team Melli“, übersetzt die Mannschaft des Volkes, im Khalifa Stadium trotzdem viel gewonnen. Weil die Nationalspieler nämlich bei der Hymne der islamischen Republik schwiegen und damit ein klares Zeichen gegen das Regime aussandten, flogen ihnen viele Herzen zu.
Mit versteinerter Miene lauschte ein jeder Akteur den Klängen. Niemand bewegte die Lippen. Und das hatten genau diejenigen erhofft, die seit Wochen in Teheran und anderswo auf die Straße gehen, um gegen die Unterdrückung der Frauen zu protestieren, nachdem vor zwei Monaten die junge Mahsa Amini nach der Verhaftung durch die Sittenpolizei gestorben war. Im iranischen Block unter dem geschwungenen Stadiondach mit seiner unnötig auf Hochtouren laufenden Klimaanlage kannte der Jubel keine Grenzen. Einigen Frauen rannten die Tränen in Sturzbächen über die geschminkten Wagen. Gänsehautmomente für jeden Augenzeugen.
Nationaltrainer Carlos Queiroz ärgert das Spannungsfeld, in dem seine Nationalkicker sich befinden. „Jeder kennt das Umfeld, in dem sich meine Spieler bewegen: Es ist nicht das Einfachste. Sie sind auch nur Menschen, sie haben Kinder. Und sie wollen für ihr Land spielen.“ Aus seiner Sicht werde den Sportlern zu viel aufgeladen: „Moralisten und Lehrer, lasst die Kids das Spiel spielen. Sie wollen einfach nur das Spiel spielen. Sie wollen Unterhaltung, Spaß und Fröhlichkeit bringen. Es ist nicht korrekt, sie Dinge zu fragen, für die sie nichts können.“ Die vielen Themen außerhalb des Fußballs würden stören. Unter den Gegebenheiten sei er stolz auf ihren Auftritt, sagte der Portugiese, der jede politische Parteinahme vermied. Der zurückgeholte 69-Jährige hatte bereits von 2011 bis 2019 in dem eng mit den Herrschern verbandelten Verband gearbeitet.
Ein zerrissenes Land
Zwei Seiten in dem zerrissenen Land wollten die Fußballer für ihre Zwecke gewinnen: Das erzkonservative Mullah-Regime, das mit brutaler Härte gegen das eigene Volk vorgeht. Und die aufgebrachten Demonstranten, die nach Freiheitsrechten für Frauen verlangen. Der iranische Staatssender unterbrach sofort die Live-Übertragung bei der Hymne, als der stille Protest erfolgte.
In dieser schwierigen Gemengelage ist vielleicht gar nicht verwunderlich gewesen, dass das iranische Ensemble den „Three Lions“ selten folgen konnte. Englands sichtlich zufriedener Trainer Gareth Southgate („Wir freuen uns sehr, so ins Turnier zu starten“) beklatschte sehenswerte Treffer von Jude Bellingham (35.), Bukayo Saka (43./62.), Raheem Sterling (45.+1), Marcus Rashford (72.) und Jack Grealish (90.). Kapitän Harry Kane trug wie erwartet nicht die „One-Love“-Binde, sondern eine mit der Aufschrift „No Discrimination“, nachdem die FIFA ihr Machtwort durchgepeitscht hatte.
Zwischenzeitlich sorgten Ehrentreffer von Mehdi Taremi (65. und 90.+13/Foulelfmeter) für Glücksgefühle beim Anhang des Iran. Zwar waren nicht annähernd so viele nach Katar gekommen wie 2018 nach Russland, aber auffällig wieder, dass die Frauen fast alle offene Haare trugen. Zudem zeigten Männer demonstrativ rote T-Shirts mit dem Aufdruck „Women. Life. Freedom“. Frauen. Leben. Freiheit. Das ist die Botschaft, die mehr zählte als das Resultat in Doha. Unklar ist, ob der mit einer Gehirnerschütterung ausgeschiedene Nationalkeeper Alireza Beiranvand im zweiten Turnierspiel gegen Wales wieder einsatzbereit ist. Seine Behandlung trug dazu bei, dass sich insgesamt 24 (!) Minuten Nachspielzeit anhäuften.
Die iranischen Akteure schienen froh, als alles überstanden war. Reza Pahlavi, der älteste Sohn des ehemaligen Schahs, Mohammad Reza Pahlavi, hatte vor der Partie unmissverständlich von ihnen gefordert: „Jetzt habt ihr die Gelegenheit, die Stimme eure Volkes zu sein und zu zeigen, dass ihr die Nationalmannschaft des Irans seid und nicht die der kriminellen islamischen Regierung. Nutzt diese einmalige Gelegenheit, um dem Volk zusätzliche Energie zu geben. Die Welt schaut euch zu.“
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