Berlin. Ein paar Minuten lang widerstanden sie dem naheliegenden Impuls. Feierten wie kleine glückliche Kinder rund um den Mittelkreis, Kapitän Alvaro Morata herzte jeden Spanier, der ihm über den Weg lief. Marc Cucurella, Vorbereiter des spielentscheidenden 2:1 im EM-Finale gegen England, war der Erste, der auf die Kurve mit den spanischen Fans zurannte. Die Arme riss der entrückt wirkende Linksverteidiger dabei immer wieder in die Luft, die in Rot gekleideten Aficionados auf den Rängen erwiderten seine Glücksgefühle. Tausendfach. Dann die Übergabe des EM-Pokals, im Beisein von König Felipe, Feuerwerk und Konfettiregen. Campeones, Europameister, die Besten des Kontinents. Oder vielleicht sogar noch mehr?
„Ich habe Ihnen gesagt: Sie sind die Besten der Welt“, berichtete Spaniens Trainer Luis de la Fuente von seiner kurzen Siegeransprache in der Kabine des Berliner Olympiastadions. Das war zwar nicht direkt als Kampfansage für die kommende Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und Mexiko zu verstehen, aber der hochverdiente Titel in Deutschland könnte tatsächlich eine neue spanische Ära einläuten.
Wie zwischen 2008 und 2012, als die goldene Generation um Xavi und Andres Iniesta zweimal die EM und einmal die WM gewann. Und selbst diese legendäre Truppe hatte es nicht geschafft, eine Europameisterschaft mit sieben Siegen am Stück zu dominieren. „Wir können immer besser werden. Das ist vielleicht ein bisschen unser Geheimnis“, sagte de la Fuente, ein ehemaliger Drittliga-Coach, der erst im Alter von 63 Jahren zu einem der Großen seiner Zunft aufgestiegen ist.
Individuelle Qualitäten und ein funktionierendes Kollektiv
Man konnte das, im Wissen um die bereits überragenden Auftritte bei dieser EM, als kleine Drohung an die Konkurrenz verstehen. Spanien lautet die Messlatte, wenn es bei den nächsten Turnieren um den Titel geht. Die Zukunft im Weltfußball schimmert dunkelrot.
Ein Team, in dem sich fast schon idealtypisch außergewöhnliche individuelle Qualität in einem funktionierenden, robusten Kollektiv entfalten kann. Ein Ensemble, das tolle Spielzüge zelebrieren, aber auch mit kämpferischen Attributen dagegenhalten kann. Wie im schwierigen Viertelfinale gegen die DFB-Elf (2:1 n.V.), dem stärksten Gegner des neuen Europameisters bei diesem Turnier. Und wie im Endspiel, als nach dem englischen Ausgleich durch Cole Palmer (73.) die Partie auch hätte kippen können.
Spaniens Renaissance spielt sich auch vor einem politischen Hintergrund ab. EM-Held Williams war einst mit seiner Familie als Flüchtling aus Ghana nach Europa gekommen. Mit einer dramatischen Geschichte: Schleppern setzten sie in der Gluthitze der Sahara aus, Vater Felix erlitt dabei folgenschwere Verbrennungen an den Fußsohlen. Als die Familie in Spanien ankam, erhielt sie politisches Asyl und musste sich lange in ärmlichen Verhältnissen durchschlagen. „Ich denke, es ist ein historischer Wechsel, der da gerade passiert“, sagte Williams in Berlin. „Wir sind sehr dankbar. Meine Eltern haben sehr viel gelitten, um hierherzukommen. Sie haben gelitten und mir Respekt und Loyalität beigebracht.“
De la Fuente hebt besonderen Charakter seiner Spieler hervor
Sein Trainer de la Fuente hob den Charakter von Spielern wie Williams hervor. Er wisse nicht, inwieweit der Fußball die Gesellschaft beeinflussen könne, sagte der spanische Nationaltrainer. Die Menschen sähen aber „nicht einfach nur verwöhnte Jungs, sondern die, die alles geben“, erklärte de la Fuente. „Es wäre schön, wenn die Leute das verstehen würden und wir den jungen Leuten zeigen könnten, was sie erreichen können im Leben.“
War der Triumph von Berlin erst der Anfang einer neuen spanischen Epoche? Rodri, Hirn und Herz dieser Mannschaft im defensiven Mittelfeld, ist mit 28 Jahren im besten Fußballer-Alter, auf den offensiven Außenbahnen sind Lamine Yamal (17) und Nico Williams (22), der im Finale das 1:0 erzielte (47.), seit diesem Sommer auf dem Weg zu Superstars. Auch die Breite des Kaders stimmt: Dani Olmo (3 Turniertore) und Mikel Oyarzabal, im Endspiel der gefeierte Siegtorschütze (86.), waren eigentlich keine Heldenrollen zugedacht.
„Oh mein Gott. Was für ein Tag. Wahrscheinlich der schönste Tag meiner Fußball-Karriere. Man spricht in Spanien immer von der vorigen Generation. Aber jetzt sind wir es auch geworden. Heute haben wir Geschichte geschrieben“, sagte Rodri, völlig zurecht zum besten Spieler des Turniers gewählt.
Pressestimmen zum EM-Finale
„As“ (Spanien): „Wieder Könige Europas. Spanien hat gewonnen, der Fußball hat gewonnen. Selten wird eine Meisterschaft einer Gruppe von Spielern so gerecht, die sich dem schönen Spiel mit dem Ball verschrieben haben.“
„Marca“ (Spanien): „Das vierte Wunder. Spanien besiegelt seine vierte Europameisterschaft, die der Hoffnung, mit einem denkwürdigen Sieg nach einer entfesselten zweiten Halbzeit. Diese Mannschaft hat es verdient, das Volk auf die Straße zu bringen, und Luis de la Fuente ist im Begriff, einer der ganz Großen in der Enzyklopädie unseres Fußballs zu werden.“
„Telegraph“ (England): „Die Qual hält an. Der Schmerz geht weiter. Und weiter. 58 Jahre und er geht für England immer noch weiter. Gareth Southgate hat gesagt, er will es so sehr, dass es wehtut. Aber was wirklich weh tut, ist das, womit England zurückgelassen wird.“
„The Times“ (England): „Spanien bricht Englands Herzen.“
„The Guardian“ (England): „Wenn der Fußball nach Hause kommt, dann nur, weil dieses Finale Spanien gehörte.“
„Tuttosport“ (Italien): „Rekordtriumph: Spanien ist zum vierten Mal Europameister. England verliert das zweite EM-Finale in Folge, der Fluch von Harry Kane geht weiter.“
„Le Parisien“ (Frankreich): „Angetrieben von seinen Wunderkindern kehrt Spanien auf das Dach Europas zurück.“ dpa
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