Bremen. Er war der erste Bundesliga-Schiedsrichter auf der Titelseite des Fachmagazins „Kicker“. Er war der erste Unparteiische, der einen Werbevertrag bekam. Und er ist der einzige, nach dem eine Gaststätte benannt ist. Als Kult-Schiedsrichter ist Wolf-Dieter Ahlenfelder wohl für alle Bundesliga-Zeiten bekannt – obwohl seine Karriere vor 50 Jahren mit einem Skandal begann: Trunkenheit an der Pfeife.
Es ist ein grauer Nachmittag an diesem 8. November 1975, im zugigen Weserstadion empfängt Werder Bremen Hannover 96, Anstoß 15.30 Uhr. 22.000 Zuschauer sehen ein ereignisarmes 0:0 – und einen Schiedsrichter, den man nicht vergisst. Das schwarze Trikot spannt über einem Bäuchlein, seine X-Beine tragen ihn flott über den Platz, mit Hohlkreuz und rausgereckter Brust hat er früh den Laufstil, der sein Markenzeichen wird. Gestatten: Wolf-Dieter Ahlenfelder, Oberhausen. Er wird an diesem Tag – nun ja, berühmt.
Im Bremer Lokal „Ahlenfelder“ plaudert Wirt Michael Pietsch über den Vorfall, dem die Bier- und Burgerbar im Szeneviertel nahe des Weserstadions seit 2021 ihren Namen verdankt. „Oft fragen Gäste, was es damit auf sich hat“, sagt der 62-Jährige, „aber viele kennen die Geschichte …“
Ein kurioser Auftritt mit Folgen auf dem Platz
„Die Geschichte“ ist schnell erzählt. Die erste Halbzeit der Partie (Anstoß 15.30 Uhr) zwischen Werder Bremen und Hannover 96 (0:0) am 8. November 1975 im Weserstadion pfiff Wolf-Dieter Ahlenfelder nach 32 Minuten ab. „Mein Trikot ist noch gar nicht nassgeschwitzt – es kann also nicht Halbzeit sein“, rief ihm Werder-Nationalspieler Horst-Dieter Höttges zu. Als dann Linienrichter Rüdiger Wuttke hektisch mit der Fahne wedelte, erkannte Ahlenfelder seinen Irrtum und setzte das Spiel mit einem Schiedsrichterball fort.
Es war der Höhepunkt eines schon zuvor seltsamen Auftritts. Ahlenfelder plauderte mit Balljungen und Spielern und fiel durch clowneske Mimik und Gestik auf, wedelte wie ein Verkehrspolizist in Seenot mit den Armen. Auf dem Weg in die Pause streckte er einem Fotografen die Zunge heraus. „Der hat ja ’ne Fahne“, wurde im Kabinengang gemunkelt.
„Da war ein Geraune im ganzen Stadion“, sagt Werder-Fan Lüder, „und Ahlenfelder hat mit den Armen gewedelt bei jeder Aktion – wir haben gelacht und gestaunt“. Wirt Pietsch hat seinen Stammgast und dessen Freund Götz als Augenzeugen von damals zum Gespräch mit dem Reporter dazu gebeten. Die beiden waren als Jugendliche dabei auf den Stehplätzen der Gegengerade und amüsieren sich köstlich, aber zur Historie können sie nichts Neues beitragen. Sie trösten sich mit einem „Ahlenfelder-Gedeck“: Ein Malteser und ein Pils (0,2) für 4,50 Euro.
Diese Kombination habe er sich nach dem Mittagessen gegönnt, gab Ahlenfelder damals zu, als ihn Journalisten mit dem Gerücht konfrontierten, er habe die Partie angetrunken geleitet. Die „fette Gans zum Mittagessen“ habe ein „Schnäpsken“ erfordert, und „ein, zwei Pilsken“ gehörten nun mal dazu: „Männer trinken keine Fanta.“
Hubertus Hess-Grunewald ist Präsident des SV Werder – und auch Augenzeuge: Der Spieler aus Werders 2. B-Jugend war Balljunge und erinnert sich so. „Das Staunen war greifbar, als dieser Pfiff ertönte. Alle schauten auf die einzige Uhr im Stadion, ein Modell Bahnhofsuhr am Dach der Südtribüne. Die stand gerade mal auf vier Uhr…“
Vom umstrittenen Schiedsrichter zum gefeierten Unparteiischen
Nach der Pause leitete Ahlenfelder wie ausgewechselt so souverän und zurückhaltend, dass Beobachter Walter Baresel eine sehr gute Beurteilung abgab. Werder-Präsident Franz Böhmert hatte nichts auszusetzen und bat beim DFB um Nachsicht: „Wir wollen diesem sympathischen Schiedsrichter nicht die Karriere ruinieren.“ Ahlenfelder kam zur eigenen Überraschung ohne Strafe oder Sperre davon und wurde nach drei Wochen wieder angesetzt.
Es folgten 103 Bundesligaspiele in 13 Jahren; 1984 wurde er vom DFB mit der „Goldenen Pfeife“ als bester Unparteiischer 1983/1984 ausgezeichnet. Als ihn 1987 mehr als ein Viertel der Bundesliga-Profis bei einer „Kicker“-Umfrage zum besten Schiedsrichter wählten, war eine Titelstory („Der Mann mit Pfiff“) fällig.
Er war ein Spezialist für brisante Spiele und blieb sich mit Mimik, Gestik und Sprüchen treu. „Junge, bitte ein bisschen ruhiger – wir wollen doch gleich noch zusammen ein Bier trinken“, warnte er Raubeine. Schwalben mochte er überhaupt nicht. „Mein Herr, muss ich Ihnen aufhelfen?“, fragte er süffisant. Berühmt wurde sein Dialog mit Bayern-Star Paul Breitner. „Mensch Ahli, du pfeifst wie ein Arsch“, sagte der Weltmeister und bekam den Konter: „Und du, Paul, spielst wie ein Arsch.“
Zum Abschied nennt Pietsch einen weiteren Grund für den Namen seines Lokals: „Es soll auch eine Verneigung vor den Tausenden von Schiedsrichtern sein, die mit ihrem Einsatz für ein paar Euro den Amateur- und Jugendfußball erst möglich machen.“ Den Jahrestag des „Ahli“-Auftritts würdigt Pietsch am 8. November 2025 (Samstag, 19 Uhr) mit dem Fußball-Quiz „Goldene Pfeife“ in seiner Kneipe und mit einer neuen Internet-Seite (ahlenfelder.com).
Wie Ahlenfelder sich zur Kultfigur entwickelte
Als er 1988 nicht für die EM in Deutschland nominiert wurde, verabschiedete sich Ahlenfelder enttäuscht („Die Erbsenzähler vom DFB haben mir mein schönes Hobby vermiest“) und mit einem Werbe-Auftritt: Der japanische EM-Sponsor „Fuji“ ließ ihn von Litfaßsäulen, Plakatwänden und Zeitschriften-Seiten pfeifen. Gegen das Votum des Schiedsrichter-Ausschusses erlaubte DFB-Präsident Hermann Neuberger persönlich die Aktion.
Bayern-Manager Uli Hoeneß bedauerte Ahlenfelders Ausstieg und traf damit die Mehrheitsmeinung der Fußball-Nation: „Die Bundesliga ist um ein Original ärmer.“ Nach dem Abschied aus der Bundesliga war „Ahli“ bei etlichen Prominenten- und Benefizspielen eine Attraktion, doch den Ärger über seinen Abschied vergaß er nie. Er starb am 2. August 2014 mit 70 Jahren.
Ob er nun tatsächlich am 8. November 1975 so betrunken den Dienst an der Pfeife versah, wie oft behauptet wird, weiß niemand. Hess-Grunewald glaubt nicht so recht daran. Seine Vermutung dürfte der Wahrheit nahekommen: Danach hatte Ahlenfelder mit Restalkohol vom Vorabend zu kämpfen. Mit dem geselligen und trinkfesten Bremer Schiedsrichter-Betreuer Richard Ackerschott hatte er den Abend vor dem Spiel in feuchtfröhlicher Runde verbracht.
Die Legende von der fetten Gans zum Mittagessen am Spieltag lebt trotzdem weiter. Auch, wenn es laut Ahlenfelder mal eine Ente und mal Grünkohl war.
Und darauf einen Ahlenfelder!
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