Paris. Erst mit dem Abstand einer Nacht und eines Tages beginnt die Phase des Realisierens. Jetzt, wo Leo Neugebauer seine Olympia-Medaille in der Hand hält, etwas zum Anschauen hat, das auch seinem Kopf klarmacht, was er in Paris geleistet hat. Am Samstagabend, als er nach den 1500 Metern – dem letzten Akt im olympischen Zehnkampf-Krimi – wie ein umgeknickter Grashalm auf der Bahn lag, ausgepumpt von schlauchenden zwei Tagen mit zehn Disziplinen und ihren so unterschiedlichen Anforderungen, ging nichts mehr mit tiefschürfender Analyse.
Da gab es nur die Worte von Mama, die ihm ins Ohr flüstert, wie stolz sie auf ihren Buben ist, das Jubeln mit den Freunden und der Familie unter den etwa 70 000 Zuschauern im Stade de France. Der Gute-Laune-Mann genoss.
Gefeiert hat Neugebauer aber dann erst am Sonntagabend. Tags zuvor passiert nach dem Wettkampf nicht mehr viel: etwas essen, ein bisschen aufs Handy schauen, schlafen.
Niklas Kaul: „Es gibt nichts Größeres für einen Sportler“
„Das hier mit einer Silbermedaille zu beenden, ist mir eine Ehre“, hatte der 24-Jährige im dicken Bauch des Stade de France gesagt. „Ich gehe jetzt mit einem Lächeln heim.“ Die historische Einordnung und Würdigung übernahm Teamkollege Niklas Kaul, der sich nach einem lausigen ersten Tag noch auf Platz acht vorgekämpft hatte. „Es gibt nichts Größeres für einen Sportler. Natürlich willst du Gold gewinnen, aber in dem Moment ist es erst mal total egal. Das hatten wir seit 28 Jahren nicht mehr.“ Seit Frank Busemann bei den Spielen in Atlanta.
Verrückte Stimmung, ein Hadern über Verpasstes? Ach, nicht mit Neugebauer. Er hat Spaß gehabt in diesem Stadion mit der „coolen und verrückten Stimmung“. Hier machte er sein Ding.
„Saustark“, meint Kaul, sei das gewesen. „Auch Leo hatte Disziplinen, die nicht so geklappt haben – wie der Stabhochsprung. Diskus war zwar sehr weit, aber er hat auch schon mal weiter geworfen. Das zeichnet große Zehnkämpfer aber aus, dass sie das in dem Moment auch hinkriegen.“ Mehr Lob geht kaum.
Die allergrößte Leistung ist jedoch nicht Neugebauers Summe von 8748 Punkten – zu Olympiasieger Markus Rooth aus Norwegen fehlten ihm am Ende 48 Zähler. Vielmehr sind es die Lerneffekte von der Weltmeisterschaft im vergangenen Sommer. „Leo hat dem Druck des Führenden an Tag eins standgehalten, was auch nicht ganz einfach ist und ihm in Budapest noch zum Verhängnis geworden ist“, betonte Teamkollege Kaul. „Dass er daraus so gelernt hat, da kann ich nur den Hut vor ziehen.“
Neugebauer ist kein Typ, der Dinge bedauert
Lange liegt der Weltjahresbeste von den Fildern, der vor viereinhalb Jahren nach Austin/Texas in die USA gegangen ist, um in der College-Mannschaft unter Cheftrainer Edrick Floréal und Technik-Coach Jim Garnham bei besten Bedingungen zum Weltklasse-Zehnkämpfer zu reifen, vorne. Doch vor den 1500 Metern ist der Vorsprung einem Rückstand von 16 Punkten gewichen – und der Gewissheit, dass U-23-Europameister Rooth schneller läuft. Neugebauer aber ist kein Typ, der die Dinge bedauert.
Ein ganzes Jahr lang hat er sich darauf vorbereitet, dass er in Paris wieder in diese Situation kommen kann. „Schon die gesamte Saison habe ich konstant versucht, am zweiten Tag ein Reset zu machen, alles locker anzugehen, meinem Körper zu vertrauen, weil ich weiß, dass ich es kann. Vielleicht musste ich in Budapest erst durchgehen, dass ich dieses Jahr die Silbermedaille bekomme.“ Jeden Trainingstag sei er in diesem Vorhaben ein wenig besser geworden. In jedem Wettkampf hat er – trotz eines teils großen Vorsprungs – daran gearbeitet. Für Paris.
Dinge zur Seite packen, weil ja noch so viel kommt. Das gelingt Neugebauer. In einer Disziplin wie dem Mehrkampf – mit seinen zehn Chancen zu siegen oder zu scheitern sowie den 48 Stunden zwischen Triumph und Tragödie – ist es eine echte Kunst, weder nach hinten noch zu weit nach vorne zu blicken und zu grübeln, was sein kann. Im Moment zu sein und hier das Beste zu geben – das ist der Trick. Und, so Neugebauer: „Ein Teil meines Erfolges ist, dass ich ich selbst bin.“
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