Party zu machen, geht in Sydney ziemlich gut. Hochstimmung herrschte am Sonntagabend auch im Sydney Football Stadium. Doch nicht der zweifache Weltmeister Deutschland tanzte hier nach dem zweiten Gruppenspiel über den Rasen, sondern die bislang nie über das WM-Achtelfinale hinausgekommenen Fußballerinnen aus Kolumbien.
Verrückter, aber nicht unverdienter Last-Minute-Sieg über Deutschland
Ausgelassen feierten sie mit riesiger Unterstützung auf den Rängen unter 40 499 Augenzeugen eine faustdicke Überraschung dieser Frauen-Weltmeisterschaft. Der verrückte, aber nicht unverdiente Last-Minute-Sieg gegen das konsternierte DFB-Team sorgte für eine Explosion der Gefühle: In der siebten Minute der Nachspielzeit wuchtete Manuela Vanegas nach einer Ecke völlig freistehend die Kugel zum 2:1 über die Linie - und veränderte die Ausgangslage in der Gruppe H komplett.
„Wir haben es nicht mehr selbst in den Füßen - das ist jetzt eine andere Situation“, sagte Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg einigermaßen ernüchtert. Direkt nach Abpfiff war die 55-Jährige bereits um Aufbauarbeit für das letzte Gruppenspiel gegen Südkorea in Brisbane am Donnerstag (12 Uhr/live im ZDF) bemüht. Denn die erste Vorrundenniederlage bei einer WM seit 1995 - damals im zweiten Spiel gegen Gastgeber Schweden mit der heutigen Bundestrainerin als Spielerin - sät Zweifel an der Mission vom dritten Stern.
„Nun ist Druck da“
Vor allem die Entstehung der Ecke, die zum entscheidenden Treffer der Kolumbianerinnen führte, ärgerte die Trainerin immens. „Das müssen wir sauber runterspielen. Wir müssen mehr an Ergebnisfußball denken.“ Da hatte jemand zu viel Übermut beobachtet.
Ein Remis hätte wegen des 6:0-Kantersiegs zum Auftakt gegen Marokko wohl für die K.o.-Phase gereicht, doch „nun ist Druck da“, wie Voss-Tecklenburg zugab. Parallelen zu den Männern bei der WM 2018, die im letzten Gruppenspiel gegen Südkorea ausschieden, wehrte die DFB-Angestellte vehement ab. „Wir müssen uns jetzt schütteln und die Aufgabe bewältigen.“
Die deutschen Mängel verschwieg Voss-Tecklenburg aber erfreulicherweise nicht. In der ersten Hälfte hätten ihre Spielerinnen „die Räume nicht erkannt, ein Tick zu viel lange Bälle gespielt“. Auch in der zweiten Halbzeit lief trotz einer Steigerung umso weniger zusammen, desto näher es an den gegnerischen Strafraum ging. Die Bundestrainerin vermisste vor allem „Positionierung, Passqualität und Präzision“, um gefährlicher ins letzte Drittel zu kommen. Ein Manko, dass sich wie ein roter Faden durch das Länderspieljahr zieht.
"Mega bitter, durch einen solchen Standard zu verlieren"
Das Mittelfeld mit Lena Oberdorf, Lina Magull und Sara Däbritz verrichtete in der extrem intensiven Auseinandersetzung viel Lauf- und Defensivarbeit, doch die zündenden Ideen wie vor dem 1:1 von Alexandra Popp (89.) hatten eher Seltenheitswert. Da hatte Däbritz mal einen Steckpass gespielt, den die eingewechselte Lea Schüller punktgenau verlängerte, sodass Oberdorf frei vor Kolumbiens Keeperin Catalina Pérez von eben jener von den Beinen geholt wurde.
Deutschlands Kapitänin verwandelte den folgenden Elfmeter nervenstark, war aber später ziemlich angefressen. „Es ist mega bitter, durch einen solchen Standard zu verlieren. Uns hat aber auch der letzte Mut Richtung Tor gefehlt“, monierte die 32-Jährige.
Der Vorwurf dürfte vor allem an die Außenstürmerinnen Jule Brand und Klara Bühl gehen, die sich viel zu häufig festliefen und Bälle verloren. Die als Rechtsverteidigern zweckentfremdete Svenja Huth („Wir müssen in 90 Minuten variabler werden und uns mehr Torchancen erarbeiten“) könnte vorne sicherlich mehr bewirken. Gerade bei der 20-jährigen Brand wirkt das im vergangenen Jahr nach der EM verpasste Etikett vom „Golden Girl“ ein bisschen verfrüht.
Wer solche Auszeichnungen definitiv verdient hat, ist Linda Caicedo. Lange kam das kolumbianische Wunderkind kaum zur Geltung, weil sich das deutsche Team gut auf die körperliche Gangart eingestellt hatte. Doch dann genügte der 18-Jährigen ein Geistesblitz, um das Stadion fast zum Beben zu bringen. Wie Caicedo erst Huth austanzte und dann den Ball in den Winkel schlenzte, war ein Führungstor fürs Geschichtsbuch (52.).
Welchen Fußabdruck das deutsche Team bei der WM hinterlässt, ist hingegen völlig offen. Möglich ist seit Sonntag alles - sogar ein vorzeitiger Abschied von der großen WM-Party in Australien.
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