Die offenen Fragen im Fall Jan Hempel

Der Dresdner Wasserspringer verbindet die Schilderung über den sexuellen Missbrauch mit Vorwürfen gegen den Bundestrainer und den Schwimmverband. Doch es gibt noch eine andere Version dieser Geschichte

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Daniel Klein/michaela Widder
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Fast fünf Wochen sind inzwischen vergangenen seit der Ausstrahlung der ARD-Doku, in der Jan Hempel im Mittelpunkt steht. Seitdem taucht der 51 Jahre frühere Weltklassesportler immer wieder in den Medien auf. Einstige Wasserspringer-Kollegen äußerten sich, Funktionäre, Psychologen. Schließlich trat Hempel zusammen mit Hajo Seppelt, dem Autor der Reportage „Missbraucht – Sexualisierte Gewalt im Schwimmsport“, in der TV-Sendung „Maischberger“ auf.

Hempels Geschichte schockiert. Der Missbrauch durch seinen Trainer Werner Langer, der begann, als das Talent aus Dresden gerade mal elf Jahre alt war, und der erst 14 Jahre später endete, ist so monströs, dass die Schilderungen auch Wochen nach dem Bekanntwerden immer noch fassungslos machen.

Gleichzeitig tauchen immer mehr Details auf, die sich zum Teil widersprechen. Die entscheidenden Fragen lauten deshalb: Wer wusste wann von den Vorfällen? Und warum wurde 25 Jahre lang geschwiegen? Es ist letztlich die Frage nach Schuldigen, nach Vertuschern, die immer dann aufkommt, wenn solch ein Verbrechen so lange vor der Öffentlichkeit verheimlicht wird.

Vorwürfe gegen den Bundestrainer

Der Hauptschuldige ist seit 21 Jahren tot. Werner Langer schied freiwillig aus dem Leben, der Trainer stürzte sich von einer Brücke. Ursula Klinger, die Bundestrainerin der Wasserspringer im Deutschen Schwimmverband (DSV) war, als Hempel 1997 erstmals einem kleinen Kreis von dem Missbrauch berichtet hatte, starb 2006. Beide können zur Aufklärung also nichts mehr beitragen.

Klingers Name wurde in den vergangenen Tagen immer wieder genannt – genauso wie der von Lutz Buschkow, ihrem Nachfolger. Hempel belastete den 64-Jährigen in der Doku schwer. „Ich habe es am eigenen Leibe viele Jahre spüren müssen, dass dem DSV nur der sportliche Erfolg wichtig ist. Alles andere – Gesundheit oder andere Problematiken – fallen völlig hinten runter. Es wird über Leichen gegangen. Wenn man nicht mitzieht, fliegt man raus. Und es sind immer noch Leute da, die es so gemacht haben“, sagte Hempel. „Wer?“, fragte Seppelt. „Lutz Buschkow“, antwortete Hempel. „Er wusste auch davon.“

In der Reportage heißt es an dieser Stelle, dass „ein weiterer Zeitzeuge“ bestätigt hat, dass die Bundestrainerin neben Buschkow auch die anderen DSV-Trainer und die Verbandsleitung über die Vorwürfe informiert habe.

Aber war das wirklich so? Buschkow war 1997 Bundestrainer für Nachwuchs und Sichtung vorrangig am Stützpunkt in Berlin und somit zu diesem Zeitpunkt kein für Hempel zuständiger Trainer. In einem ausführlichen Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) bestreitet Buschkow, der vom Verband freigestellt wurde, die Hintergründe gekannt zu haben. Bei den Deutschen Meisterschaften 1997 in Berlin seien die DSV-Trainer in einem offiziellen Gespräch von Ulla Klinger informiert worden, dass Hempel aufgrund von persönlichen Differenzen mit sofortiger Wirkung von Frank Taubert trainiert wird. „Mehr wurde uns dazu nicht gesagt“, so Buschkow.

Diese Aussage deckt sich mit der von Taubert, der damals als Landestrainer in Dresden arbeitete. Hempel habe ihn „in Ansätzen“ informiert. „Er sprach von sexuellem Missbrauch. Aber das Ausmaß habe ich erst durch die Doku erfahren“, sagte Taubert der Sächsischen Zeitung. „Und er hat damals den Wunsch geäußert, dass es nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll.“

Der Trainerwechsel fand damals kurz vor der EM 1997 in Sevilla statt. Hempel wurde am Ende der Wettkämpfe dazu befragt. „Eine Veränderung in der Trainerverantwortung ist doch nichts Negatives oder Sensationelles. Man sollte den Wechsel nicht überbewerten. Die ganze Angelegenheit wird in manchen Medien viel heißer gegessen, als sie gekocht ist“, erklärte er damals der Süddeutschen Zeitung (SZ).

Wenige Tage später war der Bruch endgültig. „Die in den letzten Jahren zutage getretenen Verschleißerscheinungen in unserer Zusammenarbeit lassen ein erfolgreiches Miteinander nicht mehr zu“, wird Hempel zitiert. Hatte er diese Aussage so formuliert, um sich und seine Familie zu schützen, wie es Taubert behauptet? Oder war sie unter Druck entstanden? So stellt es Hempel rückblickend dar: „Mir wurde von der Leitungsebene des DSV gesagt, ich soll das Thema nicht an die große Glocke hängen. Ich müsse sonst meinen Sport aufgeben – und das wollte ich natürlich nicht. Es gab auch Trainer, die mir ganz offensiv ans Herz gelegt haben, das Ganze einfach zu vergessen. Ich würde sonst die Sportart, den Trainingsbetrieb und auch ihre Jobs gefährden“, erklärt er vor einigen Tagen in der SZ. Welche Version stimmt nun?

Langer wurde damals nicht nur von Hempel getrennt, sondern fristlos entlassen. Und dafür brauchte es einen arbeitsrechtlich anerkannten Grund. Die Bundestrainerin habe „die Schritte eingeleitet, ihn zu suspendieren. Ich habe dann später rausbekommen, dass er nicht mit der Begründung Missbrauch rausgeschmissen wurde, sondern wegen seiner Stasi-Vergangenheit“, erklärt Hempel in der ARD-Doku. Dass Langer Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit war, wird in der Reportage mit Akten belegt.

Schock-Wiedersehen in Wien

Daran kann sich auch Buschkow erinnern. Der damalige DSV-Präsident Rüdiger Tretow habe ihn über Langers IM-Tätigkeit in Kenntnis gesetzt, erklärt Buschkow in der FAZ. Tretow wird in diesen Tagen danach gefragt, was er vom Missbrauch wusste. Er habe „gar nichts“ gewusst, sagt er in der ARD.

Doch warum gab der DSV 1997 als Kündigungsgrund Langers Stasi-Tätigkeit an und nicht den wahren Grund? Vertuschung, einen Skandal vermeiden – das ist naheliegend. Doch es gibt eine zweite mögliche Erklärung: Wäre das Wort Missbrauch in Langers Arbeitszeugnis aufgetaucht oder hätte der Verband Strafanzeige gegen seinen Trainer gestellt, wäre die Gefahr groß gewesen, dass die Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit kommen. Bei einer Verhandlung vor Gericht hätte man es gar nicht verhindern können. Wenn es stimmt, dass Hempel genau das nicht wollte, hätte der DSV in einem Dilemma gesteckt.

Versagt hat der Verband aber auf jeden Fall. Etwa ein Jahr nach seinem Rauswurf bekam Langer eine Stelle als Wassersprungtrainer in Österreich. Im April 1999 stand er dann beim Europacup in Wien am Beckenrand und lief seinem ehemaligen Schützling Hempel über den Weg. „Das habe ich überhaupt nicht verstanden und es zeigt, dass die Sache unter den Tisch gekehrt wurde – bis heute“, erklärt Hempel nun im SZ-Interview. Taubert war damals in Wien dabei und erinnert sich ebenfalls an die Begegnung: „Das war ein Schock – für Jan natürlich noch mehr“, sagt der 66-Jährige.

Bundestrainerin Klinger fragte damals Walter Alt, den neuen Fachwart für Wasserspringen im DSV, ob Hempel vorzeitig abreisen könne. Als der den Grund wissen wollte, erzählte sie ihm von dem Missbrauch. „Es hat mich sehr aufgeregt, dass man uns damals bei der Entlassung falsch informiert hatte, und ich war stinksauer, dass mein Vorgänger nicht verhindert hatte, dass Langer wieder am Beckenrand stand“, erklärt Alt in der FAZ. Er habe daraufhin mit Hempel reden wollen. „Aber Ulla sagte mir, dass Jan sich ihr persönlich anvertraut hätte und es nicht verkraften würde, wenn auch ich das noch wüsste“, so Alt. Er habe daraufhin den österreichischen Verband informiert. Zweieinhalb Jahre später stürzte sich Langer in den Tod.

Hempel sprang noch bis 2003 weiter. Dann stoppten ihn Arthrosen an den Handgelenken. Insgesamt musste er sich 16 Operationen unterziehen. In den 28 Jahren Leistungssport hat er 14 Medaillen bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften gewonnen und ist ungefähr 280 000 Mal ins Wasser getaucht. Heute leidet er unter Diabetes, kürzlich wurde bei ihm Alzheimer diagnostiziert – mit 51 Jahren.

Die allmählich schwindenden Erinnerungen seien ein Grund, warum er nun, knapp 20 Jahre nach seinem Karriereende, an die Öffentlichkeit geht, sagt er. Zudem wolle er einen Schlussstrich ziehen. Gibt es einen weiteren Grund? Zum Schlussstrichziehen gehört offenbar auch eine Autobiografie, deren Veröffentlichung er auf seiner Homepage für Ende 2022, Anfang 2023 ankündigt. Ein zweites Buch „Tipps und Tricks vom Profi“ ist ebenfalls in Arbeit.

Dabei hilft ihm Oliver Hillebrecht, den Hempel als „langjährigen Freund und Manager“ bezeichnet. Der 52-Jährige ist Inhaber der Werbeagentur Universal Brands in Bamberg. Kennengelernt haben sich beide, weil Hillebrecht als ehemaliger bayerischer und süddeutscher Meister im Wasserspringen seit 2004 „Arschbomben-Wettkämpfe“ veranstaltet. Bei der WM im Splash Diving zwei Jahre später in Heilbronn holte Hillebrecht dann Hempel ins Team – als Kampfrichter und Trainer. Mittlerweile sind auch die Familien gut befreundet, fahren gemeinsam in den Urlaub. „Eine Männerfreundschaft“, sagt Hillebrecht.

2010 öffnete sich Hempel das erste Mal ihm gegenüber. „Scheibchenweise. Jan war mit Scham erfüllt und ich habe bei ihm Widerwillen gespürt, darüber zu reden.“ Irgendwann, so erinnert sich Hillebrecht, habe er aber die Vollversion gehört. Bei dem Vorhaben, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, ist er nun Hempels Mentor und überzeugt: „Jan verspürt keinen Hass. Es geht ihm vielmehr darum, dass andere Sportler dieses Leid nicht erfahren müssen.“ Zu den unterschiedlichen Versionen, wer seit 1997 was wusste, sagt Hillebrecht: „Ich weiß, dass Jan keine Unwahrheiten erzählt.“

Der Manager hat Hempels Homepage überarbeitet und pünktlich zur Ausstrahlung der ARD-Doku an den Start gebracht. Unter dem Button „Schweigekartell“ können sich Betroffene melden, die sexualisierte Gewalt im Sport erlebt haben. Eine zusätzliche Anlaufstelle war ihnen wichtig. „Es melden sich Leute bei“, sagte Hillebrecht. Wie viele, darüber schweigt er aus Datenschutzgründen. Er selbst ruft die Betroffenen an und vermittelt sie weiter an bundesweite Anlaufstellen.

Der Sprung vom Sport- ins Berufsleben klappte bei Hempel nicht richtig. Parallel zu Training und Wettkämpfen absolvierte er ein Studium an der Dresdner Außenstelle der Deutschen Hochschule für Körperkultur. Der Fachhochschulabschluss wird bundesweit jedoch nicht voll anerkannt. Nach seinem Rücktritt als Wasserspringer bekam er für fünf Jahre ein Übergangsgeld von der Sportfördergruppe der Bundeswehr, zuletzt 60 Prozent seines Feldwebelgehalts.

Enttäuscht von DSV-Trainern

Danach geriet die Familie, zu der neben seiner Frau noch drei Töchter gehören, in finanzielle Schwierigkeiten. 2009 meldete Hempel Privatinsolvenz an – mit Schulden in sechsstelliger Höhe. 2010 wurde das Haus der Hempels zwangsversteigert. Er arbeitete bei seiner Frau im Nagelstudio mit, machte eine Umschulung zum Gerüstbauer, gründete mit einem Partner eine Firma, die sportmedizinische Tapes vertrieb, wurde Schulungsleiter für eine Berliner Tape-Firma, betrieb in Meißen ein Sportstudio. Doch immer wieder stieg Hempel aus, hörte auf, musste schließen. Seit vergangenem Jahr ist er bei einem Bauhof angestellt, im Sommer wird er in einem Freibad eingesetzt.

Hempel hätte gerne als Wassersprungtrainer gearbeitet. In Rostock hatte er sich mal beworben, in Dresden aber nie. Freie Stellen gab es immer mal wieder an seiner alten Trainingsstätte. „Er hat das auch mitbekommen“, sagt Taubert. Warum Hempel nicht reagiert hat, bleibt Spekulation. Womöglich haben ihn seine traumatischen Erlebnisse daran gehindert. Womöglich hätte er sich gewünscht, dass der Verband ihn fragt. Kein Trainer sei jemals zu ihm gekommen, um mit ihm zu sprechen, sagt Hempel in der FAZ. „Das kreide ich ihnen extrem an. Sie hatten immer nur ihre eigene Position im Kopf. Ich war ihnen egal.“

Als Turmspringer war Jan Hempel weltweit einer der Besten, das Leben danach war eines voller Rückschläge. Nun kennt die Öffentlichkeit mögliche Gründe. Und sie kennt unterschiedliche Versionen einer grausamen Geschichte.

Jan Hempel

Jan Hempel wurde am 21. August 1971 in Dresden geboren.

Seine internationale Karriere als Wasserspringer begann bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul.

Wie mittlerweile bekannt wurde, ist Hempel bereits damals und insgesamt 14 Jahre lang von seinem Trainer Werner Langer sexuell missbraucht worden.

Dennoch schaffte er es, einer der weltweit besten Wasserspringer zu werden.

Insgesamt gewann er 14 Medaillen bei Olympischen Spielen sowie bei Welt- und Europameisterschaften – darunter viermal EM-Gold, einmal WM-Silber und 1996 in Atlanta auch Olympia-Silber.

Seit 2002 steht der Sachse im Guinness-Buch der Rekorde für den weitesten Sprung aus dem Stand rückwärts (2,01 Meter).

Hempel ist verheiratet und hat drei Töchter.

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