Fußball

Die Helden von Bern als Vorhut eines Staatsbesuchs

Vor 70 Jahren gab es ein Länderspiel, das viel mehr war als nur ein Länderspiel: Zehn Jahre nach Kriegsende hatte die Sowjetunion den Weltmeister Deutschland eingeladen.

Von 
Harald Pistorius
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Mit Blumensträußen für die Zuschauer betraten die Mannschaften am 21. August 1955 den Rasen im Dynamo-Stadion. Die Sowjetunion mit Kapitän Igor Netto an der Spitze, die deutsche Elf angeführt von Fritz Walter. © IMAGO/Schirner Sportfoto

Osnabrück. Waren die Weltmeister von 1954 Diplomaten in kurzen Hosen? Ein Jahr nach dem Wunder von Bern bestritt die deutsche Nationalmannschaft ein Fußballspiel, das mitten im Kalten Krieg zu einem Politikum ersten Ranges wurde – auf beiden Seiten. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Sowjetunion die besten Kicker des Klassenfeindes aus der Bundesrepublik zu einem Freundschaftsspiel nach Moskau eingeladen – eine sportpolitische Sensation.

Es ist bis heute das deutsche Länderspiel mit dem höchsten Grad politischer Aufladung. Am 21. August 1955 trat der Weltmeister in Moskau gegen die Sowjetunion an – ein Jahr nach dem Sensationstriumph im WM-Finale gegen Ungarn. Bundestrainer Sepp Herberger sowie die Spieler Fritz Walter, Helmut Rahn, Horst Eckel und Co. kamen als Gäste in ein Land, das zwischen dem Überfall der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 und der Kapitulation der Nazis am 8. Mai 1945 13 Millionen Soldaten und zwölf Millionen Zivilisten durch den Kriegsterror des Aggressors Deutschland verloren hatte.

Zunächst ernste Bedenken von der deutschen Politik

Zwischen den beiden Staaten herrschte Eiszeit, es gab nicht einmal Ansätze diplomatischer Beziehungen. Erst recht nicht, seit sowjetische Panzer den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 niedergewalzt hatten. Die Teilung Deutschlands hatte sich gefestigt. Der „Eiserne Vorhang“ verlief mitten durch das frühere Deutsche Reich. In den gefürchteten russischen Lagern, in denen mehr als eine Million der 3,2 Millionen deutscher Kriegsgefangener umgekommen waren, warteten 1955 noch etwa 10.000 deutsche Soldaten auf ihre Freilassung.

Umso mehr war es eine politische Sensation, als Ende Mai 1955 die Einladung aus Moskau beim DFB eintraf. Viele Zeitungen berichteten auf der ersten Seite und nach einigem Gerangel um den Termin sagte der DFB mit Präsident Peco Bauwens Mitte Juni 1955 zu – ohne Absprache mit dem Deutschen Sportbund (DSB) oder der Bundesregierung. Kanzler Konrad Adenauer meldete am Kabinettstisch zwar ernste Bedenken gegen die Austragung an, doch jeglicher Versuch, die Teilnahme an der Partie noch abzusagen, wäre zu spät gekommen und hätte eine Brüskierung der Sowjets bedeutet. Zumal kurz nach der DFB-Zusage in Bonn ebenfalls eine überraschende Einladung eingetroffen war: Die Sowjetunion wollte Adenauer zum ersten Staatsbesuch nach dem Krieg empfangen.

Spieler sollten sich nur zu sportlichen Inhalten äußern

Von diesem Zeitpunkt an ging es der Bundesregierung nur noch darum, die Kontrolle über die politische Dimension der Länderspiel-Reise zu übernehmen. Die Angst vor der Ausschlachtung des Spiels durch die russische Propagandamaschine war groß. Das Auswärtige Amt setzte eine Instruktionsrunde mit Außenminister Heinrich von Brentano für die Delegationsleitung des DFB an. Speziell der eigenwillige Bauwens wurde „an die Kandare“ genommen, wie es DSB-Präsident Willi Daume erklärte.

Die Spieler erhielten mehrfach Instruktionen, sich nur zu sportlichen Themen zu äußern und sich nicht auf politisches Glatteis locken zu lassen. Kapitän Walter wurde dann auch gleich nach der Ankunft mit einer deutschen Pressestimme konfrontiert. „Was Napoleon und Hitler nicht gelungen ist, wird die deutsche Mannschaft schaffen: In Moskau zu siegen“, hatte eine deutsche Zeitung geschrieben. Walters Antwort setzte das Maß für die Zurückhaltung des Teams: „Wir sind hierhergekommen, um ein gutes Spiel zu machen und ein ehrenvolles Ergebnis zu erzielen.“

Unter den Konterfeis der sowjetischen Diktatoren Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin nehmen die Mannschaften Aufstellung. Auf der riesigen Tafel wird der Sieg des Kommunismus beschworen. © Sport-Illustrierte

Bei der Ankunft warteten Hunderte auf die deutsche Mannschaft, die mit zahllosen Blumensträußen begrüßt wurde – am Flughafen und im Hotel „Sovjetskaja“, dessen Luxus die Elitekicker sprachlos machte. Bauwens bekam genau die Suite mit sieben Zimmern, in der wenige Wochen später Kanzler Adenauer bei seinem Staatsbesuch residierte.

Immerhin 1.500 deutsche Fußballfreunde aus Ost und West reisten an. Sie logierten nicht so komfortabel, aber besser, als es die meisten aus der Heimat kannten. In drei Preiskategorien wurden Plätze in zwei Sonderzügen angeboten. Selbst die Fahrt in der günstigen „Holzklasse“ auf ungepolsterten Bänken kostete aber noch 748 D-Mark. Für die meisten der Fußball-Touristen aus der DDR war die Reise ein Geschenk für Verdienste beim Aufbau des Sozialismus. Im Westen gab es einen freien Verkauf. Vor manchen Reisebüros standen die Menschen Schlange.

Erste bewegte Bilder in Deutschland erst zwei Tage später in den Kinos

In einem der vier Züge – die Bahnfahrt dauerte mehr als 50 Stunden – reisten 35 Journalisten aus beiden deutschen Staaten mit. Die aus der DDR waren nach Linientreue ausgewählt, die aus der Bundesrepublik politisch instruiert vom Bundespresseamt. Über die Chefredakteure nahm das Amt Einfluss, „weil das Länderspiel zu einem hochpolitischen Propagandacoup ausgenützt und zur Beeinflussung harmloser Gemüter missbraucht wird“, wie es in einem internen Papier hieß. Die Reporter sollten versuchen, hinter die Propagandakulisse zu schauen und den Alltag der sowjetischen Menschen zu beschreiben.

Das Spiel selbst, das bei hochsommerlichen Temperaturen im Dynamo-Stadion angepfiffen wurde, erzielte in Deutschland höchste Aufmerksamkeit – nicht nur bei Sportinteressierten. Eine Liveübertragung im Fernsehen gab es aber nicht. Die ersten Bilder wurden erst zwei Tage später in den Wochenschauen der Kinos gezeigt. Dort sah man die Kulisse des imposanten Stadions mit dem gigantischen Relief, das die Sowjetführer Josef Stalin und Wladimir Iljitsch Lenin zeigte, sowie die Banner, die vom Sieg des Kommunismus kündeten und die Sportler aus der Bundesrepublik grüßten.

Ein Spiel, das geprägt war von Fairness und Respekt

Aus der Radioübertragung hatte sich der von den US-Amerikanern in Westberlin gegründete Sender RIAS zurückgezogen, weil man das Länderspiel als „politisch instinktlos“ und „würdelosen Rummel“ einschätzte. Es übernahm der Nordwestdeutsche Rundfunk, für den zwei der bekanntesten deutschen Reporter jener Zeit zwei Stunden live kommentierten: Herbert Zimmermann, der Reporter des WM-Finales von Bern, und der junge Rudi Michel.

Ganze 80.000 Zuschauer sahen ein hochklassiges Spiel in einer Atmosphäre, die auf dem Rasen und den Rängen von Fairness und Respekt, ja sogar von gewisser Sympathie geprägt war. Und das lag nicht nur an den Blumensträußen, mit denen Spieler beider Teams – angeführt von ihren Trainern Sepp Herberger und Gavriil Kachalin - den Rasen betreten und die sie vor dem Anpfiff an Zuschauer verteilt hatten. Es war im wahren Sinn des Wortes ein Freundschaftsspiel, das auch sportlich begeisterte. Internationale Beobachter bescheinigten der neuen „Sbornaja“ um Kapitän Igor Netto und Torwartstar Lew Jaschin eine Weltklasse-Leistung, die nach einer 1:0-Führung und einem 1:2-Rückstand mit einem 3:2-Sieg belohnt wurde.

Blick auf eine besondere Reise

Der Dokumentarist Thomas Grimm hat sich intensiv mit dem Länderspiel in Moskau beschäftigt und darüber das Buch „Der Kracher von Moskau“ geschrieben.

Außerdem wurde eine TV-Dokumentation produziert.

Das Buch und die DVD mit der Doku können bei der Bundeszentrale für politische Bildung unter bpb.de/shop bestellt werden.

Auch die deutsche Mannschaft erntete Lob und Anerkennung – und das war nicht selbstverständlich. Denn im Jahr nach dem sensationellen WM-Triumph hatte die Mannschaft nicht mehr annähernd das Niveau der Weltmeisterschaft erreicht. Umso wertvoller war der gegen einen starken Gegner erbrachte Nachweis internationaler Klasse.

Im Dynamo-Stadion wurde die mit sieben Weltmeistern angetretene Nationalelf– es fehlten Toni Turek, Werner Kohlmeyer, Karl Mai und Ottmar Walter – von den Experten gelobt und vom russischen Publikum gefeiert. Tausende warteten nach dem Spiel auf die Abfahrt der deutschen Mannschaft, um den Spielern zuzujubeln. Das war keine Inszenierung der staatlichen Propaganda.

Auch der Auflauf vor dem Abflug war in keinem Protokoll vorgesehen. Zum Abschied kamen nicht nur über 1.000 Sowjetbürger, sondern auch – unangemeldet und spontan – mehrere Spieler, angeführt von Kapitän Netto. Am Abend zuvor hatten sich die Spieler beim festlichen Bankett beschenkt und ihre Freundschaft besiegelt.

Ein Signal der Hoffnung für viele deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion

Für Tausende deutscher Kriegsgefangener war das Spiel, dessen Hörfunkübertragung in vielen Lagern zu hören war, ein Signal der Hoffnung. Wie gebannt hörten sie – in vielen Fällen zusammen mit den sowjetischen Wachmannschaften – auf den Appellhofplätzen zu. Auch wenn sie nur wenig verstanden. Den Moment, als sie die deutsche Hymne erstmals nach zehn Jahren hörten, beschrieben viele Heimkehrer als unvergesslich und überlebenswichtig.

Die Zusage der Sowjetunion, die letzten Gefangenen freizulassen, war das wertvollste Ergebnis des Staatsbesuchs von Adenauer. Ein Foto von der Rückkehr des Kanzlers zeigte eine Soldatenmutter, die ihm die Hand küsste. Politisch war bei dem Treffen zweieinhalb Wochen nach dem Fußballspiel die Vereinbarung zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen der erste Schritt auf dem langen Weg zurück zur Normalität.

Unterschiedliche Bewertungen des Spiels: Eisbrecher oder Schachzug?

Doch mehr als ein kleines Vorzeichen war es nicht, denn der Kalte Krieg war noch lange nicht vorbei. Auch nicht auf den Schauplätzen des Sports. Abgesehen von dem Rückspiel am 15. September 1956 in Hannover, das die deutsche Mannschaft 1:2 verlor, dauerte es knapp 16 Jahre bis zum nächsten Duell mit der Sowjetunion.

Über die Wirkung des Länderspiels vor 70 Jahren in Moskau und dessen Bedeutung für den Erfolg des Staatsbesuchs gibt es unterschiedliche Bewertungen. Manche sehen die deutschen Fußballer als Eisbrecher für Adenauer, nüchterne Beobachter halten das Spiel eher für einen sowjetischen Schachzug vor dem Kanzlerbesuch. Die sowjetische Illustrierte „Oginjok“ fasste das Ereignis so zusammen: „Die Welt war an Freundschaft reicher.“ In Deutschland beschloss der angesehene Kolumnist Richard Kirn seinen Beitrag im „Sport-Magazin“ mit den Worten: „Wer den Frieden liebt, wird den DFB loben.“

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