Sport

Risikosportart Handball - Kopftreffer als unterschätzte Gefahr

Kopftreffer im Handball können für den Torwart nicht nur schmerzhaft sein, sondern auch Folgen haben. Schlussmann Nikolas Katsigiannis von den Rhein-Neckar Löwen vermisst ab und zu die Rücksicht der gegnerischen Schützen, in der Wissenschaft ist von einer Risikosportart die Rede. Der Weltverband ändert zur kommenden Saison sogar extra das Regelwerk.

Von 
Yasmin Köseli
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Folgt der Kopftreffer oder nicht? Löwen-Torwart Nikolas Katsigiannis wirft sich in dieser Szene furchtlos dem Ball entgegen. © Sörli Binder

Der Körper steht unter Hochspannung. Die Gedanken des Torwarts sind fokussiert und die Augen verfolgen jede Bewegung. Der Ball fliegt. Alles muss blitzschnell gehen. Es gibt keine Zeit, die Reaktion zu überdenken – und schon verhindert der Kopf das Tor. Eine Szene wie diese gehört vielleicht nicht zum Alltag eines Handball-Keepers, sie ist aber auch keine Ausnahme. Bleiben nach einem Kopftreffer allerdings Symptome wie Kopfschmerzen und Übelkeit aus, geht es in den meisten Fällen am nächsten Tag einfach wieder ins Training. Ganz so, als wäre nichts gewesen. Nikolas Katsigiannis weiß das.

Der Torwart des Bundesligisten Rhein-Neckar Löwen wird zu Beginn jeder Saison getestet. Das ist hilfreich, um im Fall der Fälle später einmal eine Gehirnerschütterung oder ein Schädel-Hirn-Trauma einfacher zu diagnostizieren. Denn durch die Vergleichswerte kann der Mannschaftsarzt feststellen, ob es eine neurologische Verschlechterung des Spielers gibt. Seit Oktober 2020 kam es beim Löwen-Keeper im Training zu zwei oder drei Kopftreffern. Wie häufig ein Torhüter am Kopf getroffen wird, hänge jedoch von der Qualität der Spieler oder des Trainings ab, sagt Katsigiannis. So habe er schon in Mannschaften gespielt, in denen er zwei- bis dreimal pro Woche oder aber auch monatelang gar nicht am Kopf getroffen wurde.

Insgesamt schätzt Katsigiannis das Risiko im Spiel höher ein. „Die Schützen des Gegners nehmen auf die Torhüter gar keine Rücksicht”, sagt der Torhüter. Eine Untersuchung auf eine Gehirnerschütterung findet beim Torwart auch nicht automatisch statt, sobald er am Kopf getroffen wird. Katsigiannis befürwortet diese Vorgehensweise: „Vielleicht nimmt mich der Arzt aus dem Spiel – und das würde ich in manchen Situationen nicht bevorzugen.“

Im Fußball entscheidet der Arzt

Anders sieht das Claus Reinsberger von der Universität Paderborn. Er forscht im Bereich Schädel-Hirn-Traumata im Sport. Reinsberger ist der Meinung, dass Spieler solche Situationen oft gar nicht allein einschätzen können, da sie durch das Adrenalin „in einem Tunnel” sind. Im Fußball obliegt es seit 2015 „nur dem Mannschaftsarzt”, ob ein Spieler nach einem Kopftreffer weiterspielen darf oder nicht. Eine Regel wie diese existiert im Handball bislang nicht.

Bei einer Gehirnerschütterung gibt es häufig keine offensichtlichen Anzeichen einer Verletzung. Aus diesem Grund werden sie in vielen Fällen unterschätzt. Dabei können die Folgeschäden von Schädel-Hirn-Traumata verheerend sein. Keine Symptome zu zeigen, bedeutet dabei nicht automatisch, dass es ungefährlich ist. „Repetitive head impacts“, also kleine Schläge auf den Kopf, können in der Summe zu Veränderungen der Hirnstruktur führen. Besonders Sportler und Sportlerinnen sind davon betroffen. „Wenngleich die Häufigkeit von Schädel-Hirnverletzungen in anderen (Kollisions-) Sportarten höher ist, gehört Handball als Kontaktsportart zu den Risikosportarten“, verdeutlicht Reinsberger. American Football ist eine Kollisionssportart. An Footballern wurde das erste Mal die chronisch traumatische Enzephalopathie (CTE) diagnostiziert. Durch wiederholte Einschläge auf den Kopf entstanden Schäden im Gehirn, die wiederum zu starken Persönlichkeitsveränderungen, Parkinson und anderen psychischen Beeinträchtigungen führten.

Bei der erforderlichen Häufigkeit an „repetitiv head impacts“ sind sich Neurologie und Forschung jedoch uneinig. So gibt Oliver Ganslandt, ärztlicher Direktor des Neurozentrums Stuttgart, eine Menge von 885 bis 1800 Kopfbällen vor, die die Wahrscheinlichkeit auf CTE erhöhen. Reinsdorf hingegen sieht keinen kausalen Zusammenhang zwischen Kopfbällen und CTE.

Die sogenannte „Return to Play”- Maßnahme sieht eine stufenweise Wiedereingliederung des Sportlers vor und findet beim Deutschen Handballbund (DHB) ebenso Anwendung wie das „Concussion Recognition Tool“, einer Taschenkarte zum Erkennen und Behandeln von Gehirnerschütterungen. Um den Spielbetrieb der 1. und 2. Bundesliga kümmert sich allerdings die Handball-Bundesliga (HBL). Und laut Patrick Luig, Bundestrainer Bildung und Wissenschaft beim DHB, gibt es „keinen zentralen Leitfaden seitens der HBL zur Versorgung der Athleten bei Verletzungen aller Art”.

Ein Tabuthema

Laut Benjamin Matschke, Trainer des Erstligisten HSG Wetzlar und zuvor der Eulen Ludwigshafen, sind psychische Erkrankungen im Leistungssport immer noch ein Tabuthema, da sie als ein Zeichen von Schwäche angesehen werden. Die Offenheit ihm als Trainer gegenüber sei seitens der Spieler nicht gegeben. Matschke setzt deshalb auf ein Team innerhalb des Vereins, das als Anlaufstelle für die Spieler dient und auf psychologische Betreuung sensibilisiert ist. Dadurch versucht er, eine positive Sprache innerhalb der Mannschaft in den Vordergrund zu setzen, denn „eine wirkliche Hilfestellung von außerhalb gibt es nicht“.

Reinsberger sieht mehrere Möglichkeiten, um schweren Gehirnerschütterungen vorzubeugen. Insgesamt solle eine zielgruppenspezifische Sensibilisierung zum Thema stattfinden. Zudem hält Reinsberger Protokolle zur Erkennung und Behandlung von Kopfverletzungen, die vorgegeben und stetig weiterentwickelt werden, für notwendig. Auch Regeländerungen müssten, sofern sinnvoll, abgewogen werden.

Katsigiannis würden Änderungen einfallen, die die Verletzungsgefahr auf seiner Position verringern sollen. Für einen Kopftreffer beim Siebenmeter gibt es bereits jetzt die Rote Karte für den Schützen. Bei einem Treffer aus dem Positionsangriff „wirst du am Kopf getroffen und die Schützen bekommen gar nichts dafür”, beschwert sich Katsigiannis. Doch darüber muss er sich nicht mehr lange ärgern.

Die Internationale Handballföderation (IHF) hat diese Regel zur kommenden Saison geändert. Künftig werden Kopftreffer beim Torhüter aus freien Spielsituationen als unsportliches Verhalten bewertet und mit einer Zeitstrafe geahndet. Eine Maßnahme wie diese hält auch Reinsberger für sinnvoll. Neben Regeländerungen müsste jedoch auch das Verhalten der Spieler durch Sensibilisierung verändert werden. Eine intensive Schulung zur Behandlung von Schädel-Hirn-Traumata sollte seiner Meinung nach Teil der Trainer-Ausbildung in allen Ligen sein. Laut Luig ist dies beim DHB bereits der Fall.

Wiederkehrende Überlegungen zu einem Helm für Torhüter werden sowohl im Handball als auch im Fußball verworfen. Reinsberger nennt hierfür mehrere Gründe. Zum einen spiele der psychologische Faktor eine Rolle. Sobald ein Spieler eine Schutzkleidung trägt, fühle er sich automatisch sicherer als vorher. Dadurch können schwerwiegende Verletzungen entstehen. Zum Anderen sei die Materialforschung noch nicht so weit fortgeschritten. Ein Helm dürfe die Torhüter nicht in der Bewegung einschränken, müsste jedoch trotzdem genug Schutz bieten, um tatsächlich Gehirnerschütterungen zu verhindern. Gerade in den USA sei deshalb die Materialforschung auf diesem Gebiet ein großes Thema.

Einen Tipp, den auch Reinsberger befürwortet, möchte Katsigiannis jungen Torhüter geben: „Mindestens zweimal die Woche ein komplettes Krafttraining, um das Verletzungsrisiko zu minimieren.“ Trotz seines, wie er selbst sagt, „risikofreudigerem Spielstils“ hätte dies ihm einige Verletzungen erspart. Die spektakulären Sprünge machen ihn in der Bundesliga so besonders, zu seiner Jugendzeit wollte man ihm genau diese Art des Torwartspiels noch abtrainieren. „Es ist schwer, wenn man einen anderen Stil hat, weil die Leute wollen, dass man normal ist.”

Jungen Torhütern rät er deshalb, außerhalb „der Box” zu denken und neue Dinge auszuprobieren. Die Parade mit dem Kopf sollte allerdings nicht dazugehören.

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