Moskau/Frankfurt. Die kolossal vermurkste Reise nach Russland findet auf dem so schnell wie überhaupt möglich terminierten Rückflug nach Frankfurt ihren Schlusspunkt. Zunächst dauert die Ladung der in einer nächtlichen Hauruckaktion im WM-Quartier in Watutinki zusammengepackten DFB-Utensilien so lange, dass die Maschine mit der deutschen Nationalmannschaft erst mit einer Stunde Verspätung die als fluchtartig zu bezeichnende Heimreise antreten kann. Und dann streikt auch noch eine Toilette im Flieger, woraufhin Jonas Hector, Mats Hummels oder Antonio Rüdiger ihr Geschäft im hinteren Teil des Flugzeugs verrichten müssen. Just dort, wo sie an den kritischen Blicken der mitreisenden Journalisten vorbeilaufen. Das braucht man nicht unbedingt, wenn man sich selbst gerade das wenig schmeichelhafte Etikett angeheftet hat, die schlechteste deutsche Mannschaft zu sein, die jemals bei einer Fußball-WM angetreten ist.
Als das Team von Joachim Löw dann – von Turbulenzen beim Landeanflug durchgeschüttelt – wieder in der Heimat aufgesetzt hat, schlägt ihm auch noch Häme entgegen. „Absteiger, Absteiger“, ruft ein Flughafen-Mitarbeiter in Warnweste dem entthronten Weltmeister-Ensemble beim Aussteigen zu. Es tut weh, und es wird noch sehr lange schmerzen.
Neuer als Diplomat
Es ist der Tag nach der historischen Schmach, als erste deutsche Auswahl in einer WM-Vorrunde ausgeschieden zu sein. Als Gruppenletzter, nach einem vorher nicht für möglichen gehaltenen 0:2-Untergang gegen das kleine Südkorea. Die Aufarbeitung dieses einmaligen Desasters hat begonnen, sie dürfte sich aber noch über Wochen ziehen. Das beinhaltet die entscheidende Frage, ob es Löw sein wird, der den notwendigen Neustart nach dem Fiasko organisieren darf.
Dass es darauf wohl keine zeitnahe Antwort geben wird, verdeutlicht die kleine Fragerunde, die der DFB den Journalisten nach der Landung in einem VIP-Raum des Frankfurter Flughafens gewährt. „Der Schmerz hält mich noch gefangen“, sagt der Bundestrainer ein wenig pathetisch. Eine klare Aussage zu seiner Zukunft vermeidet der 58-Jährige aber auch am Donnerstag. „Ich muss mich selber hinterfragen. Es braucht Zeit, ein paar Gespräche, und dann werden wir eine klare Antwort geben“, erklärt Löw. Ein einfaches Weiter-so kann und darf es aber auch aus seiner Sicht nicht geben. „Es braucht tiefgreifende Maßnahmen, es braucht klare Veränderungen. Das müssen wir jetzt besprechen, wie wir das tun“, meint der DFB-Chefcoach, der mit etlichen Taktikvorgaben und Personalrochaden in Russland daneben lag. Zeit gewinnen, um die schlimmste Aufregung in der maßlos enttäuschten Fußball-Nation abflauen zu lassen – das scheint die Strategie des DFB in seiner schwersten sportlichen Krise seit 2004 zu sein. „Keine Schnellschusshandlungen“, empfiehlt Teammanager Oliver Bierhoff, kündigt aber auch eine „knallharte Analyse“ an: „Die Situation ist bei ihm wie nach jedem Turnier, das muss man erstmal sacken lassen.“ Bierhoff klingt aber auch ein wenig beschwörend: „Die Energie kommt schnell wieder. Dann muss man die Ärmel hochkrempeln und die Mannschaft wieder auf Kurs bringen.“
Schon auf dem zweieinhalbstündigen Heimflug hatten sich Löw, Bierhoff, Kapitän Manuel Neuer und Verbandschef Reinhard Grindel zu einem zehnminütigen Krisengespräch zusammengestellt. „Das steht uns Spielern nicht zu, darüber zu urteilen“, sagt Neuer später über die entfachte Löw-Debatte und spielt dem Team selbst den „Schwarzen Peter“ zu: „Das Wort Wut spielt eine Rolle. Wir haben vieles vergeigt. Wir wissen, dass wir die Protagonisten sind, die es nicht auf den Platz gebracht haben.“
Die Frage nach der Alternative
Im Endeffekt bleiben dem DFB nach dem Offenbarungseid von Kasan nur zwei Optionen: Ein kompletter Umbruch inklusive neuem Trainer; oder ein Neustart mit Löw, der dann aber sowohl sein persönliches Umfeld als auch das Team komplett umkrempeln müsste – für verdiente Spieler wie Sami Khedira, Mesut Özil oder Thomas Müller könnte dies das vorzeitige Ende ihrer Nationalmannschafts-Karriere bedeuten.
Die zentrale Frage ist, ob der Weltmeistercoach noch der Richtige sein kann, um nach dem Totalschaden des deutschen Fußballs in Russland den Neuaufbau mit den hungrigen Confed-Cup-Siegern Richtung EM 2020 anzugehen. Und, fast genauso wichtig: Gäbe es überhaupt eine geeignete Alternative zu Löw? Jürgen Klopp (Liverpool) und Thomas Tuchel (Paris) stehen bei europäischen Topclubs unter Vertrag, aus dem eigenen DFB-Trainernachwuchs drängt sich niemand auf – und würde die ein älterer Herr wie der langjährige Arsenal-Coach Arsene Wenger bei allen Meriten der Vergangenheit wirklich den gebotenen Aufbruch symbolisieren? Das darf getrost bezweifelt werden.
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