Doha. Mads Buttgereit ist international gut vernetzt. Den engsten Draht hält der Däne, der beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) als Spezialtrainer für die A-Nationalmannschaft angestellt ist, naturgemäß zu denjenigen Kollegen, die sich jetzt bei der WM um dasselbe Fachgebiet kümmern: der Optimierung von Standardsituationen.
Der 37-Jährige musste fast ein bisschen schmunzeln, als er vor einigen Monaten hörte, wen der Fußballverband der USA für diese Aufgabe angeheuert hat: Lars Knudsen, einen ihm gut bekannten Landsmann, der für Dänemark früher die U 18, U 19 und U 20 betreute und als Scout der A-Nationalmannschaft arbeitete, der ja auch Buttgereit diente, ehe ihn Hansi Flick am Telefon vom Nationenwechsel überzeugte. Beide haben früher in unterschiedlichen Funktionen beim dänischen Verein FC Midtjylland gearbeitet, der sich mit seinem wissenschaftlichen Ansatz mal bis in die Champions League vorkämpfte.
Nun betätigt sich also auch der aus Aalborg stammende Knudsen in einem mit modernsten technischen Hilfsmitteln bestückten Nebenfach. US-Trainer Gregg Berhalter nennt Standardsituationen „einen entscheidenden Bestandteil für jedes Team“. Wenn bei der WM aus dem Spiel in Ermangelung von Vorbereitungszeit nichts mehr geht, soll der ruhende Ball helfen. Die USA will als Gastgeber der nächsten WM das Turnier in Katar nicht in den Sand setzen. Knudsen brachte neben der UEFA-Pro-Lizenz auch einen Master-Abschluss in angewandter Philosophie als Empfehlung für die Anstellung als Standardtrainer ein.
In die Köpfe der Spieler vorzudringen, ist für einen Spezialcoach elementar, sagt Buttgereit. Am liebsten würde der in Flensburg aufgewachsene Sohn einer Dänin und eines Deutschen täglich eine Stunde mit den DFB-Stars an der Schusstechnik beim Freistoß oder dem Einlaufverhalten bei Ecken üben, doch so viel Zeit hat niemand. Und nun ist vor dieser WM auch noch ein richtiges Trainingslager ausgefallen. Vieles also wird in der Theorie besprochen, am iPad angeschaut – und schlussendlich darauf gehofft, dass es in der Praxis klappt.
Vorbild England
Bei der WM 2018 hatte der ruhende Ball Hochkonjunktur. In den 64 Spielen fielen allein 70 Tore nach Freistößen, Ecken oder durch Elfmeter. 42 Prozent aller WM-Treffer – so viele wie nie zuvor. 2014 in Brasilien und 2010 in Südafrika war nur jedes vierte WM-Tor aus einer Standardsituation entstanden. In Russland aber ging in den wichtigsten Partien nichts ohne dieses Stilmittel. 15 Teams erzielten damals mindestens 50 Prozent ihrer Tore nach einem Standard. Der Schotte Andy Roxburgh aus der Technischen Studiengruppe der FIFA führte den hohen Wert auf „Effizienz, Schnelligkeit des Handelns und des Denkens“ zurück. Aber dahinter steckte auch beinharte Arbeit.
Stundenlang übten etwa die Engländer unter Trainer Gareth Southgate ihre Eckball- und Freistoßvarianten, um kopfballstarke Spieler wie Harry Maguire, John Stones oder Harry Kane in die optimale Position zu bringen. Am Ende hatten englische Effizienzkünstler tatsächlich neun von zwölf WM-Toren auf diese Art erzielt. Vor der Ausführung stellten sich oft mehrere Akteure in einer Reihe hintereinander auf – als würden sie am Tresen für ein Bier anstehen. Hinter den Formatierungen steckte Allan Russell, ein zuvor in den USA tätiger Schotte, der die am Reißbrett geplanten Spielzüge aus dem Basketball oder American Football imponiert hatte.
Die Engländer kamen zwar nur als WM-Vierter, aber als Könige des ruhenden Balles zurück auf die Insel. Danach, so hat es Buttgereit beobachtet, leistete sich fast jeder zweite Club aus der Premier League mindestens einen solchen Spezialcoach. Bei Spitzenvereinen wie Manchester City sind es mittlerweile sogar zwei oder drei. Denn letztlich geht es ja nicht nur darum, aus Standards ein Tor zu erzielen, sondern sie auch erfolgreich zu verteidigen.
Auch die Nationalmannschaften stellen sich besser auf Ecken oder Freistöße ein, was die Quote bei der WM 2022 auch wieder sinken lassen könnte, erklärt Deutschlands Standardspezialist, der im Sommer 2021 bei der EM noch für Dänemark arbeitete. Was in Katar passieren wird, vermag auch er nicht zu sagen. Dass die DFB-Auswahl zuletzt nur mäßig erfolgreich mit ihren Standards war, nachdem in den ersten acht Spielen unter Flick gleich sechs solcher einstudierten Tore fielen, empfindet er übrigens nicht als Nachteil. Stichwort Überraschungseffekt.
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