Frankreich hat die Hooligan-Prügeleien und damit dunkle Seite dieser Fußball-Europameisterschaft schon früh erleben müssen. Der Gewaltausbruch von Marseille und anderen Spielorten hat friedliche Fans in aller Welt schockiert und ratlos gemacht.
Niemand verkörpert die dunkle Seite dieser Fußball-Europameisterschaft so sehr wie Alexander Schprygin. Der Vorsitzende des russischen Fanverbandes war aus Frankreich ausgewiesen worden, nachdem etwa 150 Russen in Marseille englische Anhänger brutal angegriffen hatten. Schprygin war selbst Hooligan, er hat gute Verbindungen zu russischen Neonazis und Moskauer Politikern. Anfang dieser Woche kehrte Schprygin trotz Verbots zurück zur EM. "Russland voran", schrieb er auf Twitter. "Um beim Match zu sein, musste ich einen etwas unüblichen Weg im Schutze der Nacht nehmen und für einige Zeit Tourist werden."
Seit zwei Wochen erscheinen weltweit Berichte über Hooligans bei der EM in Frankreich. Russen und Engländer, Deutsche und Kroaten, Polen und Ungarn: An verschiedenen Orten gingen Fans aufeinander los oder griffen Polizisten an. Mit unterschiedlichen Motiven. Sie zündeten Feuerwerkskörper, warfen Flaschen, posierten mit rechten Symbolen wie der Reichskriegsflagge. In den Reaktionen danach mischte sich Empörung mit Verwunderung, schließlich waren vergleichbare Gruppen bei einem großen Turnier seit der Jahrtausendwende selten zu sehen gewesen. Viele stellen eine besorgte Frage: Kehrt die Gewalt zurück in den Fußball?
Nischen gesucht
"Die Gewalt war nie komplett verschwunden", sagt Martin Endemann von den Football Supporters Europe, einem internationalen Expertennetzwerk. "Die Hooligans haben sich bloß Nischen gesucht." Die Subkulturen des Fußballs haben die politischen Entwicklungen ihrer Gesellschaften stets wie unter einem Brennglas deutlich gemacht.
"Inzwischen kommt den Hooligans die nationalistische Stimmung in vielen Gesellschaften entgegen", sagt Endemann. Was sich junge Männer im Job oder in der Familie noch nicht zu sagen trauen, geht im vergleichsweise anonymen Erlebnisraum Fußball leichter über Lippen und Fäuste: Sie predigen das Gesetz des Stärkeren - "Wir gegen die Anderen".
Viele Jahre hatten sich die Hooligans zurückgehalten. Der Auslöser: die Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, als deutsche Schläger den französischen Gendarm Daniel Nivel fast zu Tode prügelten. Hooligans stellten ihre Adrenalinstöße infrage. Sicherheitskonzepte wurden verbessert. Einige Hooligans kämpften fortan in der Abgeschiedenheit, auf Äckern und Wiesen. Sie trainierten in Kampfsportstudios und organisierten ihre Prügeleien in sozialen Medien. Sie drehten Videos und schmiedeten Allianzen mit rivalisierenden Gruppen. Innerhalb der Szene verbündeten sich Hooligans auch mit Neonazis und Rockern, die Grenzen waren fließend. Die öffentliche Aufmerksamkeit war ihnen lange egal.
Doch seit fünf, sechs Jahren beanspruchen rechte Hooligans wieder den öffentlichen Raum, auch in Deutschland: Die "Borussenfront" in Dortmund, die "Standarte" in Bremen, die "Rotfront" in Kaiserslautern. Sie gehen weniger in den Stadien in die Offensive, sondern mehr im Umfeld der Arenen: auf Bahnhofsplätzen, in Sonderzügen und Kneipen. Auch bei weniger bedeutenden Länderspielen in Polen oder Georgien. Aber: Selten wird das medial dokumentiert.
Es entstand ein Klima der Angst: In Braunschweig veröffentlichten Hooligans die Adressen von antirassistischen Aktivisten. In Aachen zogen sich linke Anhänger zum eigenen Schutz aus dem Stadion zurück, nach Drohungen, Überfällen und "Hausbesuchen" von Hooligans. Und in Dortmund wurden Fanbetreuer mehrfach angegriffen. Es war wie so oft: Eine Minderheit bedroht eine Mehrheit durch Gewalt.
Die Vereine jedenfalls schwiegen oder wollten Opfer und Täter an einen Tisch bringen, auf Augenhöhe. Lokalpolitiker hielten sich zurück, weil sie schlechte Schlagzeilen für ihre Kommunen befürchteten. So blieb die politische Dimension der Hooligan-Angriffe meist unerwähnt.
In einer Zeit, in der bundesweit intensiv über die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) diskutiert wurde, konnten sich Rechtsextreme im Fußball-Milieu unbeobachtet fühlen. Daraus schöpften die Hooligans Machtansprüche. Sie schlossen sich zu "HoGeSa" zusammen: Hooligans gegen Salafisten. Im Oktober 2014 randalierten mehr als 4000 von ihnen im Zentrum von Köln. Das Bündnis zerstritt sich schnell, doch die Aggressionen der Männer blieben in der Gesellschaft.
Feindbild Islam
Die Entwicklungen in Fanszenen und Politik unterscheiden sich mitunter enorm, doch die Vorfälle in Köln standen repräsentativ für die neue Brücke zwischen Hooligans in Europa: die Feindseligkeit gegen den Islam als Selbstermächtigung zur Gewalt. In Brüssel störten 400 Hooligans die Trauerfeier für die Opfer des islamistischen Terrors. In der ungarischen Stadt Szeged patrouillierten dutzende Fans an der Grenze, um Flüchtlinge zu stoppen. Im Herzen von Stockholm machten Hooligans Jagd auf Einwanderer. In Breslau zeigten Ultras eine Choreografie: Darauf verteidigt ein Kreuzritter Europa mit dem Schwert. Vor zwei Wochen in Marseille, wo rund 200 000 Muslime leben, brüllten englische Fans: "Isis - Where are you?" Sie verglichen die Einwohner mit den mordenden Terroristen des sogenannten Islamischen Staates.
In Russland hat die Nichtregierungsorganisation Sova in jüngerer Vergangenheit mehr als 200 Vorfälle von Diskriminierung dokumentiert: Affenlaute gegen schwarze Spieler, Fans mit Hakenkreuz-Tätowierungen. Regelmäßig gehen Schläger aus Moskau und St. Petersburg aufeinander los. Viele Russen feierten nun ihren "EM-Sieg" gegen englische Hooligans mit Fotos von erbeuten Fahnen. Igor Lebedew, Parlamentsvize in Moskau, schrieb auf Twitter: "Gut gemacht Jungs. Weiter so." Der Gastgeber der WM 2018 steht vor einem großen Sicherheitsproblem. Ein Konzept zur Gewaltprävention existiert nicht.
In vielen Betrachtungen werden Hooligans als widersprüchliche Nebendarsteller des Fußballs dargestellt, die außerhalb der Stadien keine Existenz haben. Doch Gewalt, Bürgerlichkeit und Politik sind nicht voneinander zu trennen. Politisch wollen sich die Hooligans nicht vereinnahmen lassen, aber als Einschüchterungstruppen lassen sie sich auf Kundgebungen von rechten Parteien gern umgarnen - bei den Schwedendemokraten, bei "Recht und Gerechtigkeit" in Polen, bei "Jobbik" in Ungarn. Auch bei Pegida in Dresden, wo viele Fans des neuen Zweitligisten SG Dynamo als "Bürgerwehr" gefeiert werden.
Fankurven zeigen den Rechtsruck
Vor allem in Osteuropa sind Fankurven oft die sichtbarste Ausdrucksform des gesellschaftlichen Rechtsrucks. Zurzeit wird in Kreml-kritischen Medien die Vermutung geäußert, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Hooligans als Provokateure gegen die ungeliebte Europäische Union nach Frankreich schicken ließ. "Das sind Verschwörungstheorien", sagt Pavel Klymenko vom Antidiskriminierungsnetzwerk Fare (Football Against Racism in Europe). Erwiesen ist aber, dass in Russland regelmäßig Oppositionelle, Menschenrechtler oder Journalisten von Schlägern attackiert werden. Unter diesen Splittergruppen spielen Hooligans eine Rolle, aber nicht die entscheidende, berichtet Klymenko.
Eine Positionierung gegen rechte Gewalt fehlt auch in anderen Teilnehmerländern der EM: In Polen veröffentlichte Fußball-Verbandschef Zbigniew Boniek auf Twitter ein Foto von Jacek Purski, einem Gründer des Antirassismus-Netzwerks "Nie Wieder". Dazu platzierte Boniek den Verweis zu einem rechten Magazin, es folgten Drohungen gegen Purski. In Deutschland hat AfD-Politiker Alexander Gauland eine diffuse Kritik gegen den schwarzen Abwehrspieler Jérôme Boateng geäußert. Wie weit ist es von solchen Ressentiments bis zum ersten Fausthieb nationalistischer Fans?
Ultras bilden Brücke
"Im deutschen Fußball jedenfalls gibt es weit mehr antirassistische als rechte Fangruppen", sagt Pavel Brunßen, Chefredakteur des politischen Fußballmagazins "Transparent".
Das liegt vor allem an den Ultras, die oft eine Brückenfunktion bilden zwischen Jugendlichen und Polit-Aktivisten: Die "Schickeria" in München bewahrte Kurt Landauer vor dem Vergessen - unter dem jüdischen Präsidenten hatte der FC Bayern 1932 seine erste Meisterschaft gewonnen; 2013 wurde er posthum zum Ehrenvorsitzenden des Vereins gewählt. Auch die "Kohorte" in Duisburg oder "Stradevia 907" in Fürth organisieren Lesungen, Benefizkonzerte und Gedenkstättenfahrten.
Die Gruppen bereichern die Zivilgesellschaft ihrer Städte, deren Jugendzentren unter dem öffentlichen Sparzwang leiden. Laut der Shell-Studie von 2015 äußern 41 Prozent der deutschen Jugend ein Interesse an Politik, 2002 lag dieser Wert noch bei 30 Prozent. Aber: Das Interesse an Parteien ist kaum vorhanden. Mehr Vertrauen bringen die Befragten Menschenrechtsgruppen entgegen. Die Ultras folgen diesem Trend und halten sich nicht an starre Strukturen. Durch das Medium Fußball erhalten sie eine Aufmerksamkeit, die sich so manche Nichtregierungsorganisation seit langem wünscht. In Russland ist davon fast nichts zu sehen.
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