Afghanistan - Taliban überrennen die Stadt Ghazni / Menschen lassen ihren Besitz zurück und fliehen durch verminte Gebiete

„Wir haben alles verloren“

Von 
Agnes Tandler
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Unzählige Passagiere warten auf einen Bus, der sie aus Kandahar bringen kann. Das jetzt von den Taliban eroberte Ghazni liegt an der wichtigen Straße Richtung Kabul. © dpa

Kabul. „Unsere Stadt ist abgebrannt, unser Haus ist abgebrannt, wir haben alles verloren“, klagt Fatima. „Was müssen wir tun, damit die Regierung uns hört?“ Tagelange hatte die afghanische Regierung in Kabul erklärt, in Ghazni sei alles unter Kontrolle. Doch diejenigen Einwohner, die wie Fatima aus der Provinzstadt knapp 150 Kilometer entfernt nach Kabul fliehen konnten, zeichneten ein anderes Bild: Horrorgeschichten einer belagerten Stadt ohne Wasser, ohne Strom. Menschen konnten wegen der heftigen Kämpfe Verwundete nicht ins Krankenhaus bringen. Taliban-Kämpfer gingen von Haus zu Haus, um jeden zu erschießen, der auch nur unter Verdacht stand, aufseiten der Regierung zu sein.

Mehr als 100 Tote

Fatima war die Flucht aus der Stadt gelungen. Sie und ihre Familie mussten sich über kleine Straßen durch gefährliche Gebiete durchschlagen, wo die Taliban und Regierungstruppen sich heftige Kämpfe lieferten. Die Taliban hatten die wichtigsten Zufahrtswege nach Ghazni vermint, um Armee und Polizei den Nachschub abzuschneiden. Mehr als 1000 Taliban-Kämpfer hatten am Freitagmorgen die Stadt mit 270 000 Einwohnern gestürmt und fast alle Gebäude erobert.

Auch gestern gingen die Kämpfe weiter, besonders in den Außenbezirken der Stadt. Einwohner berichteten, mehr als 100 Tote seien in das regionale Krankenhaus gebracht worden und mehr als 200 Verletzte würden dort behandelt. Das Innenministerium bestätigte den Tod von 100 Polizisten. Keinerlei Angabe über Verluste machte die Militärführung in Kabul, die lediglich behauptete, mehr als 200 Taliban-Kämpfer seien getötet worden. Die Vereinten Nationen äußerten sich besorgt über die Situation der Zivilbevölkerung. „Einwohner von Ghazni müssen mit ansehen, wie sich ihre Stadt in ein Schlachtfeld verwandelt hat“, erklärte der Koordinator für Humanitäre Angelegenheiten, Rik Peeperkorn.

Doch nicht nur in Ghazni zeigten die Taliban ihre Stärke: Am Sonntag überrannten sie auch den Ajristan-Distrikt, 100 Kilometer westlich von Ghazni. Mehr als 100 Soldaten einer Spezialeinheit werden seither vermisst, die meisten sind vermutlich tot. Am Montag stürmten Taliban-Kämpfer eine Militärbasis in Ghormach, im Nordwesten des Landes. Tagelang hatten die belagerten Soldaten die Armeeführung in Kabul vergeblich um Verstärkung angefleht. Mindestens 43 Soldaten kamen ums Leben, mehr als ein Dutzend wurde als Geiseln genommen.

Dass es den Taliban gelingen konnte, Ghazni so einfach zu überrennen, ist eine bedenkliche Entwicklung. Die Stadt, 150 Kilometer südwestlich von Kabul gelegen, liegt auf der wichtigen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar im Süden. Wer Ghazni kontrolliert, kann somit Kabul von den Südprovinzen abschneiden.

Wie die afghanische Regierung spielen auch die USA die Gewinne der Aufständischen dabei gerne herunter: Die Taliban seien „verzweifelt“ und würden „Gebiete verlieren“, heißt es stets. Doch die Realität sieht anders aus. Dabei kam der Sturm von Ghazni nicht überraschend. Ähnlich wie im Fall von Kundus hatten Provinzpolitiker und Regierungsvertreter lange davor gewarnt. Doch die Regierung soll den Ernst der Lage verschwiegen haben.

Korrespondent

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