Russland

„Wir erfrieren! Helfen Sie uns endlich!“

Der anomal kalte Winter legt die marode Infrastruktur offen. Zehntausende Menschen bibbern in ihren Wohnungen und schicken Hilferufe an den Präsidenten

Von 
Inna Hartwich
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In Russland herrscht klirrende Kälte: Der Moskwa-Fluss in Moskau (mit dem Kreml im Hintergrund) ist zugefroren. © A. Zemlianichenko/AP/dpa

Moskau. Sie haben sich warm angezogen, haben sich auf der Treppe ihres Hauses in Reih und Glied aufgestellt. Wenn sie sprechen, kommen Nebelwölkchen aus ihren Mündern. Es ist kalt in Woskressensk, knapp 80 Kilometer südöstlich von Moskau. So kalt wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr. Für ganz Russland melden die Meteorologen eine anomale Kälte für Januar, durchschnittlich bis zu 15 Grad kälter als sonst in dieser Jahreszeit. In Moskau und Moskauer Umland sind es derzeit zwischen minus 20 und minus 30 Grad. Das bringt die Infrastruktur an den Rand ihres Funktionierens, in knapp zehn Regionen des Landes zeigt sich ihr Verfall: Wasserleitungen bersten, Heizungen bleiben kalt, der Strom fällt aus.

In manchen Wohnungen funktioniert auch das Gas nicht. Die Menschen laufen in dicken Jacken und Mützen zu Hause, machen Feuer vor der Haustür. Die Treppenhäuser sind voller Eisschichten, Freiwillige verteilen Federbetten und bringen etwas Warmes zu essen. Manche, bei denen geheizt wird in der Wohnung, bieten Schlafplätze für Bedürftige an. Schulen schließen, Krankenhäuser werfen ihre Generatoren an. In den sozialen Netzwerken häufen sich Hilferufe, ähnlich dem aus Woskressensk bei Moskau.

„Sechs Grad sind es in meinem Schlafzimmer“, sagt eine ältere Frau, die zunächst für ihr ganzes Haus spricht, 14 Stockwerke hoch. „Wir leben nicht, wir existieren. Wir erfrieren! Schauen Sie uns an! Tun Sie etwas! Wir haben Kinder, die krank werden! Wir werden krank! Unsere Katzen und Hunde zittern! Man sagt uns, alles sei unter Kontrolle. Getan wird aber nichts. Helfen Sie uns! Wladimir Wladimirowitsch, sehen Sie doch, es wird nur schlimmer!“

Beschädigte Leitung

Und der Präsident befasst sich – öffentlichkeitswirksam – mit dem Problem der vereisten Wohnungen. Gouverneure müssen ihre Berichte bei ihm abliefern, Putin verspricht Besserung, am Tag darauf zeigt das Staatsfernsehen, wie Heizungen wieder anspringen, wie das Ermittlungskomitee die Vorgesetzten der Heizwerke und die Vizegouverneure der Regionen zu Befragungen mitnimmt. Putin kümmert sich für gewöhnlich ungern um „niedere“ Angelegenheiten, überlässt Schwierigkeiten mit der Versorgung, der Infrastruktur, der hohen Preise seiner Regierung. Doch im März will er zum sechsten Mal im Amt bestätigt werden. Da kommt es schlecht, wenn die Bevölkerung bibbert und unzufrieden die „Willkürherrschaft“ anprangert, zumal so nah an Moskau.

Es sind vor allem die Menschen in Städten rund um die Hauptstadt, die in den Neujahrsferien – in Russland bis 9. Januar – froren. Eine Wärmeleitung bei Podolsk, südlich von Moskau, war Anfang Januar gerissen und konnte mehrere Tage lang nicht repariert werden. Aber auch bei Tscheljabinsk am Ural, in Rostow am Don an der russisch-ukrainischen Grenze oder in Wolgograd, blieben die Menschen ohne Heizung, Warmwasser oder Strom.

Das Problem der maroden Infrastruktur rührt noch aus der Sowjetzeit. Die von Korrosion befallenen Eisenrohre werden zwar nach und nach durch Plastikrohren ersetzt, aber zu langsam. „Auch in zwei Jahrzehnten alles zu erneuern, ist unmöglich“, heißt es aus dem Kreml. Zudem wächst die Hauptstadt rasant. Am Rande entstehen neue Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Stadien. Angeschlossen werden sie an alte Rohre und Stromnetze.

Korrespondent

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