Berlin. Als der Ukraine-Krieg ausbricht, geben Militärexperten der Ukraine drei Tage. Mehr an Durchhaltefähigkeit trauen sie dem Land nicht zu. Christine Lambrecht (SPD) erzählt die Geschichte nebenbei, aber vor einem Fachpublikum. Süffisant gibt die Verteidigungsministerin vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu Protokoll: Nicht nur sie – die militärische Seiteneinsteigerin – wird damals überrascht. Wie haben die Soldaten von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj das geschafft?
Die Gegenoffensive im Nordosten mit Geländegewinnen von 6000 oder mehr Quadratkilometern ist eine große Verschiebung des Frontverlaufs und nach monatelangem Stellungskrieg bemerkenswert. Vieles kommt zusammen: ein kluger Angriffsplan, sträfliche Versäumnisse des Gegners und westliche Waffen. Der US-Militärexperte, der unter dem Pseudonym Jomini of the West den Ukraine-Krieg auf Twitter analysiert, hält es für die „erfolgreichste Gegenoffensive seit der ,Operation Gazelle’“. So nannten die Israelis ihren Befreiungsschlag im Jom-Kippur-Krieg 1973.
Der Ukraine gelingt es, ihre offensichtlich beträchtliche mobile operative Reserve zu verbergen – Soldaten, Waffen, Munition, Treibstoff –, die eine solche Initiative voraussetzt. Aber so unglaublich es klingt, die Gegenoffensive ist vorhersehbar. Man kann nicht mehrere Brigaden in Marsch setzen, ohne dass es auf Satellitenbildern auffällt. Jemand hat versagt: der militärische Geheimdienst GRU oder die Generalität. Russische Blogger warnen Ende August vor einer Offensive in der Region. Einer von ihnen, Jewgeni Poddubny, sagt sogar die Stadt Balaklija als Schwerpunkt voraus.
Der australische Ex-General und Fachautor Mick Ryan spricht von einem „guten Täuschungsplan“. Viele Beobachter sind im Juli irritiert, als die Ukraine für den Herbst eine Großoffensive im Süden ankündigt. Es ergibt keinen Sinn, sich selbst den Überraschungseffekt zu nehmen. Es führt dazu, dass die russische Armeeführung eilends Truppen aus dem Norden und Osten in die Provinz Cherson verlegt. Als die Ukraine wie angekündigt dort zuschlägt, halten die russischen Truppen stand, dafür fehlen sie nun im Nordosten.
Wie die Ukrainer vorgehen, wie ihre Teilstreitkräfte im Gefecht zusammenspielen, nötigt westlichen Spitzenmilitärs Respekt ab. Anders als die Russen könnten sie „in herausragender Weise“ agil operieren, lobt der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn. Modern ist auch die Führungsphilosophie: Die Russen treffen ihre Entscheidungen zentral, die Ukrainer delegieren sie, überlassen den Offizieren mehr Spielraum. Die Schnelligkeit ist ausschlaggebend, weil auf russischer Seite Panik ausbricht. Ein Rückzug ergibt Sinn, um nicht eingekesselt zu werden, ist aber ungeordnet. Die Russen überlassen den Ukrainern Munition und schweres Gerät, sogar Panzer. Es ist auch davon auszugehen, dass die Ukraine viele Gefangene macht. Das tut Kremlchef Wladimir Putin weh. Seinen Streitkräften fällt es schwer, Soldaten zu rekrutieren.
Das erbeutete Material ist wichtig, da die Armee überwiegend mit Waffen aus sowjetischer oder russischer Produktion kämpft, der Nachschub mit Ersatzteilen und Munition schwierig ist. Auf Fotos und Videos machen Experten auch eine Vielzahl westlicher Waffen aus. Doch selbst für das Institute for the Study of War sind sie nicht der zentrale Faktor. Das ist „der kluge Angriffsplan des Generalstabs“.
Der Krieg tritt in eine neue Phase ein. Die Initiative geht auf die ukrainische Seite über. Im Süden kommen ihre Kräfte nur langsam voran, aber im Nordosten hat sich ihre Ausgangslage vor dem Wintereinbruch verbessert. Hier kann sie mit ihrer Artillerie alle Eisenbahnlinien in den Donbass unterbinden, das wichtigste Transportmittel des Gegners.
Was kann die Ukraine aufhalten? Der frühere US-Generalleutnant Mark Hertling gibt drei Dinge zu bedenken: Tempo, Müdigkeit und „schwarze Schwäne“, also unvorhergesehene Ereignisse. Sie müssen ihren Vorstoß absichern, den Nachschub festigen, den Soldaten Pausen einräumen. Eine seiner letzten Analysen schließt Mick Ryan militärisch knapp ab: „Der Krieg ist noch lange nicht vorbei, aber vielleicht wendet sich nun das Blatt, endlich.“ Weil die Russen in „echten Schwierigkeiten“ seien, „sollten wir auch auf eine unerwartete Reaktion von Putin achten“. Auf den schwarzen Schwan.
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