Schaffe, schaffe Häusle baue … Der Palästinenser Tariq Nasser lebt in Ost-Jerusalem, kennt aber das Motto vieler Schwaben, er hat ja in Stuttgart Architektur studiert. Offensichtlich färbt das auf ihn ab. Nasser träumt nicht von Luftschlössern. „Die Jugend hat keine Hoffnung mehr, deshalb müssen wir aufhören zu reden und lieber etwas machen“, sagt Nasser. Hat er wirklich keine Sehnsucht nach Frieden? „Ich spreche nicht über Frieden, sondern nur über Arbeit“ blockt Nasser ab. Mit dieser Methode hat sich der Architekt einen Namen gemacht.
Von seiner zupackenden Art bräuchte es in Ost-Jerusalem viele Menschen. Denn dort herrscht neben Hoffnungslosigkeit auch Trist-esse. Die Gullydeckel mögen recht neu sein, ansonsten macht der von Israel annektierte Teil einen heruntergekommenen Eindruck. Müllberge an jeder Ecke, viel Bauschutt, kaputte Autos. Blühende Landschaften sehen anders aus. Der Grund: Israel investiert dort kaum Geld.
„Wind Of Change“ vorbeigezogen
Am Gesamtbild kann Nasser zwar nichts ändern, aber er setzt eigene Farbtupfer und behält dabei einen kühlen Kopf. Dafür braucht er übrigens die Berieselungsanlage auf der Terrasse nicht, über die sich die Gäste in dieser Gluthitze freuen. „Anfangs ist mir beim Spazieren gehen aufgefallen, dass es hier kaum Grün gibt“, sagt Nasser. Eine Antwort darauf: das Sinsila-Projekt. Palästinensische Frauen gärtnern auf den Dächern und betreiben eine Bienenzucht. Das ist nachhaltig und bringt Geld ein. „Honey Money“ witzelt Nasser frei nach einem Abba-Song.
Vor 30 Jahren wurde ein anderes Lied im Nahen Osten voller Hoffnung angestimmt. Der „Wind Of Change“ hatte auch ihn erfasst, Bill Clinton brachte im Weißen Haus 1993 zwei Erzfeinde zusammen, die mit ihrem historischen Händeschlag den Frieden besiegeln wollten. Israels Ministerpräsident Izchak Rabin und Palästinenserführer Jassir Arafat hatten sich darauf geeinigt, dass es künftig zwei Staaten geben sollte. Israel und Palästina. Rabin prophezeite, die Aussöhnung mit den Palästinensern werde „die meisten Probleme Israels lösen“.
Doch dieser Traum hat sich als Fata Morgana erwiesen. „Oslo war ein Fehlschlag. Wir haben den Palästinensern Land gegeben und dafür den Terror bekommen“, sagt Ariel Kahana, diplomatischer Korrespondent bei der Tageszeitung „Israel Hayom“. Damit spielt er auf den Abzugs Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 an. Kurz darauf flogen die Raketen und Mörsergranaten. Und ein Jahr später gewann die islamistische Hamas die Parlamentswahlen in den Palästinensergebieten. „Wir wollen nicht mit den Palästinensern zusammenleben“, sagt Kahana. Aber wie will die Besatzungsmacht diese loswerden, wenn sie ihnen nicht ihr Land zurückgibt? „Wir machen es wie US-Präsident Joe Biden und warten einfach ab.“
Nur worauf? Der Journalist hofft – und da unterstützt er voll Ministerpräsident Benjamin Netanjahu – dass Israel Frieden mit den arabischen Nachbarn schließen kann, ohne sich mit den Palästinensern einigen zu müssen. Auch diese würden sich in Wahrheit gar nicht um das Schicksal der Palästinenser scheren und lieber Geschäfte mit Israel machen. Kahana & Co. münzen die Oslo-Formel „Land für Frieden“ einfach in eine neue um: „Frieden für Frieden“. Und siehe da: Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain, der Sudan und Marokko haben bereits diplomatische Beziehungen mit Israel aufgenommen. Ein Abkommen mit Saudi-Arabien – das noch in weiter Ferne liegt – wäre ein Jahrhundert-Deal. Kahana: „Wir boykottieren die Palästinenser. Der Frieden wird auch ohne sie kommen“, schwärmt er.
„Wer hat denn Rabin ermordet?“
Attila Somfalvi, Anchorman bei den „YNet News“, hält das für Blödsinn. „Das größte Problem ist doch, dass die Palästinenser nicht verschwinden werden“, kritisiert er im Streitgespräch, in dem die zwei Journalisten wie Politiker ihre Agenda ausbreiten. Dass Leute wie Kahana für das Scheitern des Oslo-Abkommens allein den Terror der Palästinenser verantwortlich machen, hält Somfalvi für absurd. „Wer hat denn Rabin 1995 ermordet? Ein Jude und kein Palästinenser.“ Damit nicht der falsche Eindruck entsteht, der impulsive Anchorman ist kein Freund der Palästinenser. Aber er weiß, dass die Besatzungsarmee den Terror nicht besiegen kann. „Wir haben viele getötet, aber es wachsen immer neue Terroristen nach“, sagt er.
Palästina
- Die historische Region Palästina liegt an der südöstlichen Küste des Mittelmeeres. Sie bezeichnet ein Gebiet, auf dem sich heute der Staat Israel, der Gazastreifen, das Westjordanland, Teile Syriens, des Libanon und Jordaniens (das Ostjordanland) befinden.
- Im Ersten Weltkrieg eroberten britische Truppen 1917/18 Palästina. Im Laufe der britischen Mandatsherrschaft verschärften sich die jüdisch-palästinensischen Auseinandersetzungen. Mehrere Einwanderungswellen ließen den jüdischen Bevölkerungsanteil in Palästina bis 1945 auf rund 30 Prozent anwachsen.
- 1947 beschloss die UN-Generalversammlung, Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu teilen. Die Palästinenser, die über 90 Prozent des Landes besaßen, wurden nicht befragt. Die arabischen Staaten lehnten den Teilungsplan ab. Einen Tag nach der Proklamation begann der zionistisch-arabische Bürgerkrieg. Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser flüchteten. Am 14. Mai 1948 rief David Ben-Gurion den Staat Israel aus.
- Am 16. Mai 1948 marschierten arabische Armeen in Israel ein. Die Waffenstillstandslinien vom Frühjahr 1949 vergrößerten das israelische Territorium von 14 100 auf 20 700 Quadratkilometer. Dieses Gebiet gilt auch heute noch als das Kernland Israels.
- Im Sechstagekrieg 1967 besetzte Israel das Westjordanland, Ost-Jerusalem, die Golanhöhen und den Gazastreifen. Jetzt war Israels Staatsgebiet dreimal so groß wie vorher. Erneut flüchteten Hunderttausende Palästinenser in die Nachbarländer.
Und Somfalvi steckt den Finger tiefer in die Wunde. „Das größte Problem von Oslo war, dass wir die Siedler nicht sofort aus den Autonomiegebieten rausgeschmissen haben“, meint er. „Wir sollten denen kein Geld mehr geben.“ Inzwischen ist ihre Zahl auf 700 000 angestiegen.
„Schauen Sie, überall gibt es hier Werbeplakate für Siedlungen“, sagt Ron Shatzberg, ein ehemaliger Oberst, der sich mit Sicherheitsfragen beschäftigt und bei der Nichtregierungsorganisation Economic Cooperation Foundation (ECF) aktiv ist. Die Siedlungen lassen sich leicht erkennen. Sie erleuchten im satten Grün. Auf den Dächern stehen kleine weiße Wassertanks. Die der Palästinenser sind größer und schwarz. Israel weist ihnen nur rund 20 Prozent des Wassers zu.
Schatzberg betont, dass rund zwei Drittel der Siedler entlang der grünen Linie ihre Häuser hätten. Im Falle einer Friedenslösung wäre ein Gebietsaustausch möglich. „Das Problem ist das letzte Drittel, das sind Hardcore-Siedler, die tief ins Westjordanland gehen. Sie erfüllen in ihren Augen eine biblische Mission und würden sich mit Händen und Füßen wehren, wenn sie ihre Häuser verlassen müssten“, sagt Shatzberg.
Die religiösen Fanatiker haben durch Netanjahus neue Rechtsregierung sogar Auftrieb erhalten. Diese hat im Koalitionsvertrag den Anspruch auf das Westjordanland fixiert. Es ist auch die Rede von einer möglichen Teilannexion. Der Siedlungsausbau soll forciert, illegale Bauten sollen nachträglich legalisiert werden. Das alles widerspricht dem Völkerrecht wie die international nicht anerkannte Annexion Ost-Jerusalems nach dem Sechstage-Krieg 1967.
Militärexperte Shatzberg betont allerdings, dass es anders als in der Vergangenheit nicht die Sicherheitsfragen die Rückgabe des Westjordanlands blockieren. „Natürlich gibt es eine Lücke zwischen dem Wunsch der Palästinenser nach Souveränität und unserem nach Sicherheit. Aber das Problem wäre lösbar.“ Es geht also um das Land, woraus die Rechtsregierung erst gar kein Geheimnis mehr macht. Aber auch um Religion. Gerade in Jerusalem. „Der Tempelberg ist einer der spannungsreichsten Orte im Nahen Osten. Die Religionsfreiheit lässt sich hier nur mit einem großen Aufgebot von Sicherheitskräften durchsetzen“, sagt Shatzberg. Als Ariel Scharon vor 23 Jahren als Oppositionsführer mit fast 1000 Soldaten und Polizisten martialisch auf den Tempelberg marschierte, löste er die zweite Intifada aus.
Es gibt Waffen im Überfluss
Denn auf dem Tempelberg stehen mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee wichtige islamische Stätten – nahe der Klagemauer, dem höchsten jüdischen Heiligtum. Nach Shatzbergs Angaben würden immer mehr Juden den Tempelberg aufsuchen. „Früher waren es nur 5000, inzwischen sind es manchmal 50 000. Die Behörden unterschätzen die Gefahr, wenn zu viele Juden dort hingehen und dann auch beten, was verboten ist. Das kann im Extremfall eine dritte Intifada auslösen“, warnt der Sicherheitsexperte.
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Die Lage ist ohnehin schon explosiv genug. In den ersten neun Monaten von 2023 verzeichnen die Chronisten auf beiden Seiten die bisher meisten Toten seit Jahren. Die Terror-Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad setzen immer wieder Raketen und Mörser ein. Und es gibt Waffen im Überfluss. „Die meisten Selbstmordanschläge werden in Jerusalem verübt, weil es nah an Ramallah und Bethlehem liegt. Die Attacken gehen nicht nur von der Hamas aus, es sind auch säkulare Kräfte am Werk“, so Shatzberg.
Die Palästinensische Autonomiebehörde hat dagegen nicht nur ihre Autorität, sondern auch die demokratische Legitimation verloren. 2006 gab es die letzte Parlamentswahl. Und Präsident Mahmud Abbas ist 2005 gewählt worden, 2009 wurde die Amtszeit des inzwischen 87-Jährigen aber auf unbestimmte Zeit verlängert. Seine Regierung gilt als korrupt. Die Angst vor Wahlen ist aber groß, weil dann die Hamas die Macht ganz übernehmen könnte.
Zukunft sieht düster aus
„Der Status quo ist bequem für die Autonomiebehörde, Israel und die internationale Gemeinschaft“, sagt der 25-jährige Zaid Amali, Kommunikationsdirektor der Jugendorganisation Miftah. Die Jugend im Westjordanland hat noch nie gewählt und auch nicht die zweite Intifada erlebt. „Die Mehrheit ist unter 45 Jahre alt, gut ausgebildet mit Talent und Ideen, aber weil es hier nicht vorwärts geht, wandern viele aus“ , bedauert Amali. Die Perspektiven sind düster. „Wir sind die Oslo-Generation. Die Hälfte der männlichen Bevölkerung wurde schon mindestens einmal verhaftet“, sagt er. Nach seinen Angaben sitzen 5000 politische Häftlinge ein, 1500 ohne ein Urteil. „Wir haben keine Reisefreiheit, die Frustration ist groß“, sagt er. Auch über Europa. „Alles was du als Palästinenser tust, ist immer gleich Antisemitismus oder Terrorismus“, sagt er. Und legt nach: „Viele Palästinenser haben nur zwei Probleme: Wie werde ich nicht getötet und wie bekomme ich etwas zu essen“, sagt er.
Die Gefahr, dass sich die Wut der jungen Palästinenser entlädt, ist deshalb groß. „Wenn du schon ständig kriminalisiert wirst, kannst du gleich die stärkste kriminelle Methode anwenden, nämlich Gewalt“, erklärt er die Gefühlslage der Jugend. Die Palästinenser nimmt es vor allem mit, dass nach ihrer Ansicht mit zweierlei Maß gemessen wird. „Wenn mein Freund getötet wird, ist das in Ordnung. Wenn in Nablus ein Siedler getötet wird, riegelt die Armee die ganze Stadt ab und es gibt viele Tote. Ist unser Leben weniger wert?“, fragt die Journalistin Faten Elwen.
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