Der Staub frisst sich durch die Kleidung, diese Mischung aus Sand, Abgasen und Rauch überzieht die Blätter der Salbäume am Straßenrand mit einer grauen Schicht und fließt am Horizont zusammen mit dem Dunst, der ohnehin wie eine Glocke über der Landschaft hängt. Ein Schlagbaum begrenzt das südliche Ende von Biratnagar, Nepals zweitgrößter Stadt, nach Kathmandu. An der Grenze zu Indien tummeln sich Schmuggler, Bettler, hier reisen Geschäftsleute hin und her, Menschen besuchen ihre Verwandten auf der anderen Seite, Trucks, Busse, Mopeds und Rikschas wirbeln noch mehr Staub auf.
Der illegale Handel blüht
Mit flehenden Augen strecken zwei kleine Mädchen ihre Hand auf. Sie sind barfuß und völlig zerlumpt. Klar, sie wollen Geld, wie so viele hier. Geld, das wird hier zwischen all dem Treiben im Staub klar, ist das, worum sich alles dreht – obwohl oder gerade weil es in dieser Region, die eine der ärmsten der Welt ist, nur wenige Möglichkeiten gibt, es legal zu verdienen. Umso mehr blüht der illegale Handel, etwa mit Drogen. Und mit Menschen; vor allem Mädchen und jungen Frauen. Wie schaffen es kriminelle indische Hintermänner, an ihre Opfer heranzukommen? Was sind die Tricks, wer spielt eine zwielichtige Rolle, und warum sind Eltern und Töchter so oft im guten Glauben, das Richtige zu tun? Eine Reise in verschiedene Grenzregionen zeigt: Das System ist bis ins Detail ausgeklügelt, und oft spielen Verwandte und Freunde eine zwielichtige Rolle.
So wie bei Sahil. Die 21-jährige lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern in einem Dorf zwischen den beiden Kleinstädten Shambhunath und Lahan, zwei Stunden Autofahrt von der Großstadt Biratnagar entfernt. Der Vater nimmt Gelegenheitsjobs an, die Mutter kümmert sich um die Kinder, das kleine Haus aus Stein und Bambus, die Ziegen, die Hühner, die Kuh. Sahil hatte vor zweieinhalb Jahren die 12. Klasse abgeschlossen und sich am College in Lahan eingeschrieben, um Lehrerin zu werden. Weil es umständlich ist, vom Dorf in die Stadt zu kommen, zog sie mit einer Mitbewohnerin in ein Zimmer in Lahan.
Nun sitzt sie im Versammlungsraum des Dorfes mit ihrer Mutter und ihrem Vater auf einer Strohmatte, um zu erzählen, wie sie im Lockdown im Herbst 2020 durch eine aufmerksame Beobachterin an der Grenze vor einer Verschleppung, die mit ihrem Tod enden sollte, bewahrt wurde. Sie spricht leise und stockend. Ihr Blick schweift immer wieder ab ins Leere, dann zupft sie Strohhalme aus der Matte, wischt sich verstohlen Tränen ab.
Es war die Mutter ihrer Mitbewohnerin, die ihr vorschlug, zu einem Hindu-Festival nach Indien zu reisen. Es sollte dort eine Brücke eingeweiht werden, und die Bewohner wünschten sich bestimmte Rituale, mit denen Unheil von der Brücke abgewendet werden sollte. Die Mutter der Mitbewohnerin untersuchte die Gliedmaße von Sahil, notierte ihre Größe. Keine Frage: Die junge Frau fällt auf – obwohl sie weder Sari noch Armreife trägt, sondern Sporthose und ein weites T-Shirt. Als ob sie ihre Schönheit verbergen will.
Offenbar sind es genau diese jungen Frauen, unberührt, mit vermeintlich perfektem Körper, nach denen Menschenhändler suchen, um sie für rituelle Morde zu verkaufen. Die Praxis ist trotz Verbots in Indien nach wie vor üblich. Laut der indischen Kriminalitätsbehörde NCRB, die Statistiken über Straftaten führt, kommt es immer noch zu Menschenopfern im ganzen Land. Zwischen 2014 und 2021 zählte die Behörde 103 rituelle Morde.
Auch Sahil war drauf und dran, in die Fänge der skrupellosen Menschenfänger zu geraten. Gelockt von den Versprechungen der Mutter ihrer Mitbewohnerin – sie sollte 100 000 Rupien (714 Euro) und ein besseres Karma erlangen –, gab sie schließlich dem schmeichelnden Werben nach. Außerdem sollte ihre Mitbewohnerin auch mitreisen. Was genau passieren sollte, blieb allerdings unklar. Sahil wusste nur, dass sie fünf bis zehn Minuten bei einer rituellen Handlung dabei sein sollte.
Am vereinbarten Treffpunkt waren noch zwei weitere Mädchen, unter ihnen die gleichaltrige Sarala, die ebenso auffallend groß ist wie Sahil. Vier junge Männer warteten auf sie mit ihren Motorrädern. Die Männer maßen noch mal die Körpergröße. Von der Mitbewohnerin war nichts zu sehen. Immer noch in gutem Glauben, das Richtige zu tun, stiegen die drei Mädchen auf die Motorräder der Jungs, fuhren über Feldwege Stunde um Stunde. Am Abend kamen sie am Grenzübergang Bhantabari im Distrikt Sunsari an.
In letzter Sekunde gerettet
In dem direkt angrenzenden Dorf ist es für die Menschen selbstverständlich, ihr Gemüse jenseits des Schlagbaums zu verkaufen. Der Übergang ist offen, zwischen der nepalesischen und der indischen Seite ist ein Streifen Niemandsland. Sahil, Sarala und das dritte Mädchen passierten mit den jungen Männern den Schlagbaum. Doch auf der indischen Seite wurden sie von der Polizei aufgehalten und befragt. Als die Polizei von den Vermessungen hörte und dass die Mädchen zu einem Ritual gebracht werden sollten, war klar, dass es sich um einen geplanten Ritualmord handelte. Die indischen Polizisten brachte die Gruppe auf die nepalesische Seite, wo sie die dortige Polizei in Empfang nahm – und CoCon, der lokale Partner der Hilfsorganisation Plan International. Die Männer kamen unter Arrest, CoCon-Mitarbeiterin Balika Inaruba rief die Eltern an.
Die 32-jährige Frau bewacht jeden Tag den Grenzübergang, zehn Stunden lang von 8 Uhr bis 18 Uhr. Sie kennt die Bewohner des nepalesischen Dorfes ebenso wie die Menschen auf der indischen Seite. Wenn sie eine Gruppe junger Männer sieht, die Frauen dabeihaben, fragt sie: Wo wollt ihr hin? Wo kommt ihr her? Allein reisende Mädchen oder Jungen, die zu einem vermeintlichen Job nach Indien wollen, fragt sie: Wo ist euer Arbeitsvertrag? Habt ihr eine Telefonnummer? Wie heißt euer Chef? Seid ihr euch sicher, dass es die Firma auch gibt? Jeden, den sie nicht kennt, trägt sie in eine Liste ein, 10 000 Menschen hat sie schon registriert. „Und wenn ich den Verdacht habe, da sollen Menschen auf die andere Seite geschmuggelt werden, schalte ich die Polizei ein“, sagt sie. Sie habe schon viel erlebt, aber der Fall von Sahil und Sarala erschüttere sie noch heute. Wie die Mädchen getötet werden sollten? Balika sagt, sie sollten auf dem Altar liegen. Dann schweigt sie und schlägt die Handkante gegen den Hals. Geköpft? Balikha nickt. Und die Leichen, was sollte mit denen passieren? In den Fluss – über das Brückengeländer.
300 Meter vom Schlagbaum entfernt wohnt Roshani (21) mit ihren Eltern, Großeltern, jüngeren Geschwistern und ihrem Ehemann. Wie Sahil geht sie aufs College, um Lehrerin zu werden. Dass Mädchen und auch Jungen Opfer von Menschenhandel werden – „ich konnte das nicht glauben“, sagt sie. Bis sie die Geschichten hörte. Mit anderen Jugendlichen geht sie in Schulen, informiert auf Facebook, spielt in einem Theaterstück vor, wie sich Vermittler Vertrauen erschleichen, wie meist weibliche Bekannte werben, wohin das Geld fließt und wie Träume von einem Job zerplatzen und sich die Opfer wiederfinden in einer Art moderner Sklaverei, Zwangsprostitution und Ausbeutung.
So wie Mina (16), die als Zwölfjährige in die Hände eines zwielichtigen Eventmanagers geriet. Sein Agent suchte im Dorf bei Biratnagar nach Mädchen und Frauen – und nahm Kontakt zur Großmutter von Mina auf. Das Mädchen könne als Babysitter in der Nähe arbeiten, es könne weiter zur Schule gehen und ein Gehalt bekommen – für eine Familie, die von dem lebt, was der Vater als Tagelöhner auf einer Zuckerrohrfarm nach Hause bringt, sind das verlockende Aussichten. Die Familie stimmte zu. Doch Mina und drei weitere ältere Mädchen landeten nach einer Reise im Bus, Pferdekarren, Zug und zu Fuß nach zwei Tagen in Indien im Haus des Managers. Sie sollten tanzen, Männer umschwirren, sie zum Geldausgeben animieren. Alkohol floss in Strömen, auch die Mädchen mussten trinken. Die zwölfjährige Mina hütete zunächst nur die vier Kinder, putzte und kochte für die Familie.
Vom Mut einer Mutter
Wo sie war, was mit ihr passierte – sie hatte keine Ahnung. Mit der Zeit begriff sie, dass sie entführt worden war. „Ich hatte furchtbare Angst“, erzählt die heute 16-jährige. „Ich wusste lange Zeit gar nicht, dass ich in Indien bin.“ Und dann sollte sie auch noch tanzen. Als sie sich weigerte, wurde sie geschlagen. Je mehr Mina stockend erzählt, desto klarer wird: Es muss sich um eine Art Bordell gehandelt haben. Auch die Eltern hatten keine Ahnung, wo Mina war. Sie stellten die Großmutter zur Rede, die schaltete den Vermittler ein und bekam schließlich heraus, dass die Enkeltochter in Indien war. Es gab mehrere Reisen der Großeltern und der Mutter zum Haus des „Unternehmers“. Der Hausherr rückte das Mädchen nicht raus – er habe schließlich 35 Tanzshows vereinbart, so seine Begründung. Dann sollte die Mutter als Ersatz tanzen. Nach zähen Verhandlungen und Drohungen mit der Polizei erklärte sich der Hausherr schließlich bereit, Mina gehen zu lassen, wenn die Mutter innerhalb der nächsten Wochen ihm weitere zehn Mädchen besorge. Die Mutter stimmte zu, das Kind kam nach neun Monaten frei. Als drei Agenten des offensichtlichen Bordellbesitzers Wochen später den Deal einforderten, ging die Mutter allerdings zur Polizei und erzählte dort auch, dass weitere Mädchen in dem Haus gefangen seien. Der Vermittler wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
Woher der Mut der Mutter kommt? Ob sie keine Angst hatte? „Viele Leute sagen aus Angst nicht, was passiert ist, sie verstecken sich. Ich will das nicht.“ Ihr geht es auch um den Schutz der anderen.
Wie bei Sahil, die geopfert werden sollte, ist auch bei Mina unklar, wie viel die Vertrauensperson von den Absichten wusste oder ob sie mehr oder weniger naiv für den „Job“ warben. Aktivistin Roshani gibt darauf ebenso wenig eine klare Antwort wie die NGO-Mitarbeiterin Balika Inaruba. Klar ist nur: Es fließt Geld. Umgerechnet an die 1000 Euro für die Agenten, 500 für Vermittlerinnen und Vermittler und sonstige Helfer wie die Motorradjungs, die ihre Opfer zu dem tödlichen Ritual fahren wollten. Die Auftraggeber sitzen in Indien. Auch Minas Großmutter wurden 5000 Rupien – 35 Euro – versprochen. Roshani zeigt mit zwei Freunden in einem kleinen Sketch, wie wichtig die Rolle der Vertrauensperson ist. Wie sie umschmeichelt, Druck macht, verspricht. Wie die böse Hexe im Märchen Hänsel und Gretel. Nur dass es kein Märchen ist.
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