Mannheim. Frank Kalter ist Professor für Soziologie an der Universität Mannheim sowie Direktor des Deutschen Zentrums für Migrations- und Integrationsforschung. Er mahnt, sich auf alle Szenarien des Kriegsverlaufs einzustellen.
Herr Prof. Kalter, wie viele Menschen werden noch vor dem Krieg in der Ukraine fliehen?
Frank Kalter: Ich glaube nicht, dass man das halbwegs seriös beziffern kann. Es gibt rund 44 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, zehn Millionen sind schon geflohen, 3,7 Millionen von ihnen über die Grenze. Es gibt viele Leute, die sagen: „Wenn die Situation noch dramatischer wird, mache ich mich auch auf den Weg.“ Ob sie das dann machen oder überhaupt schaffen, lässt sich jetzt nicht vorhersagen.
Im Syrien-Krieg sind die Hälfte der Menschen geflohen, ein Viertel in andere Länder. Könnte das ein Anhaltspunkt sein?
Kalter: Das wäre ein mögliches Szenarium. Aber die Unsicherheit ist in alle Richtungen hoch, wir wissen nicht, was passieren wird. Deshalb ist es wichtig, auf alles vorbereitet zu sein.
Die einen müssen da mehr vorbereitet sein als andere. Allein in Mannheim haben sich rund 2000 Geflüchtete registriert. Das sind 20 Prozent aller aktuell registrierten Kriegsflüchtlinge in Baden-Württemberg. Die Herausforderung ist ja, dass sich die Menschen – anders als 2015 – die Orte, an die sie gehen, selbst aussuchen können.
Kalter: Das ist richtig. Die Massenzustrom-Richtlinie der Europäischen Union, die jetzt erstmals aktiviert wurde, sieht vor, dass sich die Menschen frei bewegen können. Aber unabhängig von dieser besonderen Regelung wird Migration immer stark über Netzwerke gesteuert. Wo schon viele Menschen aus einem Land sind, kommen natürlicherweise noch mehr.
Frank Kalter
- Frank Kalter ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim.
- Er ist außerdem Gründungsvorstand und Direktor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), einer außeruniversitären Forschungseinrichtung.
- Kalter forscht unter anderem zu Ursachen von Migration.
Wäre eine faire und gerechte Verteilung aber nicht sinnvoller?
Kalter: Die Frage ist, was eine faire und gerechte Verteilung ist. Der sogenannte Königsteiner Schlüssel orientiert sich an der Kostenbelastung, die Kriegsflüchtlinge werden entsprechend des Steueraufkommens und der Bevölkerungsgröße auf die Bundesländer verteilt. Auf der anderen Seite ist es dort fair, wo die Integrationschancen besonders groß sind, wo langfristig die Belastung am geringsten ist. Und da sind strukturschwache Gebiete sicherlich weniger gut geeignet als größere Städte.
Aber schaffen das die Kommunen?
Kalter: Die Kostenverteilung und die faktische Verteilung müssen ja nicht identisch sein. Bei ungleicher Verteilung könnten die Kosten umgelegt werden. Länder und Kommunen, die mehr Kriegsflüchtlinge aufnehmen, müssen die Kosten dafür nicht allein tragen.
Die Deutschen sind extrem hilfsbereit, spenden, unterstützen ehrenamtlich, nehmen Geflüchtete bei sich auf. Fürchten Sie, dass die Stimmung kippen könnte?
Kalter: Die Hilfsbereitschaft war auch schon bei der Flüchtlingskrise 2015 groß. Es ist gar nicht klar, ob das irgendwann gekippt ist, oder ob das nur in der öffentlichen Diskussion so dargestellt wird. Es wird immer Teile in der Bevölkerung geben, die Fluchtmigration kritisch sehen. Und wenn sich die Lage normalisiert hat und die ersten Probleme auftauchen, wird die aktuelle Euphorie vielleicht auch nicht mehr so groß sein wie jetzt. Aber eine grundsätzliche Hilfsbereitschaft wird es weiter geben – das war auch 2015 so.
Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine brauchen nicht erst lange Asylverfahren zu durchlaufen, für sie gilt ein vereinfachtes Verfahren. Sie können mindestens zwei Jahr hierbleiben, erhalten staatliche Leistungen, können gleich arbeiten. Ist das nicht eine Ungleichbehandlung gegenüber Geflüchteten aus anderen Ländern?
Kalter: Das ist auf jeden Fall eine Ungleichbehandlung. Die Frage ist nur, was man daraus lernt, und in welche Richtung man das korrigiert. Die Situation jetzt zeigt ja, wie Prozesse laufen können, wenn die Bedingungen besser sind. Die weitgehende europäische Einigkeit, die Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren, ist schon ein großer Fortschritt.
Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht, und es werden noch mehr werden, wenn der Klimawandel Gegenden erst einmal unbewohnbar macht. Lernen wir also am besten möglichst viel aus Krisen wie dieser?
Kalter: Migration hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben und wird es immer geben. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor. Unterm Strich ist Zuwanderung aber immer ein Gewinn. In der Pflege oder Gastronomie gibt es in Deutschland einen erheblichen Mangel an Fachkräften. Auf diesem Gebiet werden wir bald europaweit und global so richtig um Migranten konkurrieren. In diesem Konkurrenzkampf sollte Deutschland darauf achten, gute Karten zu haben.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/politik_artikel,-politik-unsicherheit-ist-gross-_arid,1931352.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html