Belgrad. Der 32-jährige Serbe bedauert, im März aus Westeuropa wieder zurück in seine Heimat gefahren zu sein. „Hier werden wir alle sterben“, befürchtet Zoran S. aus der Stadt Novi Pazar. Innerhalb von nur wenigen Tagen sind drei seiner Verwandten an der Lungenerkrankung Covid-19 verstorben. Die Zahl der Neuinfektionen steigt vor allem im Süden von Serbien.
Viele Bürger vermuten schon seit Langem, dass die offiziellen Zahlen nicht der Realität entsprechen. Insbesondere aus der südserbischen Stadt Nis kamen immer wieder Nachrichten, dass viel mehr Leute im Krankenhaus seien, als man offiziell berichtet, und dass auch viel mehr Menschen bereits durch die Viruserkrankung gestorben sind. Jeden Tag kämen ungefähr zehn Krankenwagen mit Patienten aus Teilen Südserbiens zum Krankenhaus in Nis. Ärzte und Krankenschwestern seien extrem übermüdet.
Gesicherte Informationen gibt es aber wenige, weil es offensichtlich auch nicht erwünscht ist, dass sie nach außen dringen. Klar ist aber, dass auch die Behörden mittlerweile Alarm schlagen. In Novi Pazar gibt es wieder Ausgangssperren am Abend, und Fitnesscenter sind wieder gesperrt. Ein Ärzteteam aus Kragujevac ist angereist, um zu helfen. Fotos und Videos von Kranken, die auf den Gängen des Spitals oder sogar am Boden liegen müssen, werden vor allem auf sozialen Medien geteilt. Es dringen auch Nachrichten durch, dass das Krankenhauspersonal am Ende seiner Kräfte ist.
Bad in der Menge
In der Stadt mit 55 000 Einwohnern sind offiziell mehr als 500 Menschen erkrankt. Menschenmengen und Fußballspiele mit Zuschauern dürften zur Verbreitung beigetragen haben. So vergnügte sich etwa der Politiker Rasim Ljajic Mitte Juni beim Bad in der Menge, als gebe es keine Regeln zum Abstandhalten. Abstandhalten wird aber auch von den Behörden oftmals nicht mehr eingefordert. So fand bereits Mitte Juni ein Fußballmatch mit 15 000 Zuschauern in Belgrad statt – es ist also kein Wunder, wenn die Zahlen wieder nach oben gehen.
Als vor wenigen Tagen die serbische Regierungschefin Ana Brnabic nach Novi Pazar kam, drehten ihr Ärzte und Krankenschwestern aus Protest demonstrativ den Rücken zu.
Die serbische Regierung hat das Vertrauen der Bevölkerung verloren. „Beleidigen Sie uns nicht mit Ihren Aussagen! Das ist alles eine Lüge! Hier herrscht ein allgemeiner Zusammenbruch. Halten Sie uns nicht für blöd! Unsere Mütter, unsere Brüder sterben, unsere Jugend stirbt!“, rief eine Frau, als Brnabic ansetzte zu reden. Die Frau gab an, dass ihr Vater nicht ins Krankenhaus könne, weil es keinen Platz mehr gebe. Ihre Mutter sei bereits an der Covid-19-Lungenerkrankung verstorben.
Das Medium „Balkaninsight“ hat aufgedeckt, dass zwischen 19. März und 1. Juni bereits 632 Menschen in Serbien gestorben seien, während offiziell nur 244 Covid-19-Tote gemeldet wurden. Des Weiteren schreibt das Medium, dass die Zahl der Neuinfektionen zwischen 17. und 20. Juni über 300 pro Tag lag – offiziell wurden an diesen Tagen jeweils unter 100 positiv Getestete gemeldet.
Dem Medium wurden Datensätze des offiziellen Covid-19-Informationssystems in Serbien zugespielt. Die Regierung hat bisher keine Erklärung für diese Differenz geliefert, am vergangenen Freitag aber 359 neue Ansteckungen gemeldet.
In der Hauptstadt Belgrad hingegen wurde zuletzt der Ausnahmezustand verhängt. Jetzt gilt dort Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften und Ämtern. Gaststätten, Cafés und Clubs müssen spätestens um 23 Uhr schließen. Ein Sicherheitsabstand von 1,5 Metern ist einzuhalten.
Einreisestopp nach Griechenland
Interessant ist, dass die Zahl der Neuinfektionen Mitte Juni Bemessungsgrundlage für die EU war, ob sie zulässt, dass Bürger aus Dritt-Staaten in die EU einreisen dürfen. Zuletzt hieß es, dass dies wegen der schlechten epidemiologischen Lage für die meisten Staaten in Südosteuropa nicht erlaubt werde. Doch die EU empfahl zum 1. Juli eine Lockerung der Corona-bedingten Einreisebestimmungen für Bürger aus 14 Nicht-EU-Staaten. Unter dem Eindruck der jüngsten Entwicklungen hat Griechenland am Montag aber seine Grenzen für Reisende aus Serbien geschlossen – zunächst bis 15. Juli. (mit dpa)
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