Über dem Breitscheidplatz liegt eine unwirkliche Stille

Von 
Rudi Wais
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"Der Terror darf nicht siegen!" steht auf einem Zettel geschrieben, der zwischen Blumen und Kerzen am Breitscheidplatz liegt.

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Berlin, der Tag danach: Schweigend sitzen die Menschen in den U- und S-Bahnen, die Straßen um den Tatort sind gespenstisch leer. Der Anschlag raubt der Stadt ihre Unbeschwertheit.

Wir sind besonders wachsam", schreibt die Berliner Polizei über den Nachrichtendienst Twitter im Internet. "Seien Sie es bitte auch." So viele Zeugen das Attentat im Herzen der West-Berliner City beobachtet haben, so widersprüchlich sind ihre Aussagen. Auch auf die Frage, ob es sich um einen Einzeltäter handelt, ob er vielleicht von religiösen Eiferern inspiriert wurde oder eine ganze Gruppe hinter dem Attentat steckt, haben die Behörden bisher keine Antwort.

Der Schock in der Hauptstadt sitzt tief. Auch beim Generalbundesanwalt Peter Frank. Auf seine persönliche Befindlichkeit angesprochen, gesteht er, momentan nicht unbedingt einen Weihnachtsmarkt besuchen zu wollen. "Wir sind fassungslos", sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller.

Polizist drängt Passant zurück

Über dem sonst so geschäftigen Breitscheidplatz liegt am Morgen danach eine unwirkliche Stille. Es ist kurz nach sieben Uhr, als ein Abschleppdienst mit der Bergung des polnischen Lastwagens beginnt, der in die Menge gerast war und zur tödlichen Waffe wurde. Die Polizei hat das Gelände mit einem Bauzaun und blickdichten weißen Planen großräumig abgeriegelt, der Eingang zur U-Bahn schräg gegenüber ist geschlossen. Neben der Treppe hat jemand Kerzen und zwei Blumensträuße niedergelegt - ein stummes Zeichen der Anteilnahme.

Ein Mitarbeiter, der an seinen Arbeitsplatz im Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite eilt, wird von einem Beamten freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen: "Das ist ein Tatort." Auf der Beifahrerseite des dunkelgrauen Lasters vom Typ Scania hängt ein Stück Tannenschmuck, mitgerissen offenbar in dem Moment, als der Sattelschlepper in den schmalen Zaun kracht, der den bei Einheimischen wie Touristen beliebten Weihnachtsmarkt von der stark befahrenen Budapester Straße trennt.

Wie genau der Attentäter das schwere Fahrzeug unter seine Kontrolle gebracht hat, ist noch unklar, erst allmählich verdichten sich die Indizien zu einem gespenstischen Bild. Danach hat der große Unbekannte den polnischen Kraftfahrer möglicherweise erschossen. Ariel Zurawski, der Eigentümer der Spedition, hat jedenfalls schon früh ein mulmiges Gefühl. Seit 16 Uhr, sagt er noch am Montagabend in einem Interview, habe er keinen Kontakt mehr zu seinem Fahrer gehabt, der zugleich sein Cousin ist und gerade eine Fuhre Baustahl aus Italien nach Berlin gefahren hat.

Dass er ein Mittäter sein könnte? Undenkbar für seine Familie. "Ich kenne ihn seit meiner Kindheit", beteuert Zurawski. "Ich bürge für ihn. Ihm muss etwas angetan worden sein." Später wird Bundesinnenminister Thomas de Maizière berichten, der Mann auf dem Beifahrersitz sei Pole und habe eine Schusswunde gehabt. Ob er schon tot ist, als der Attentäter seine Amokfahrt startet oder erst auf dem Breitscheidplatz stirbt? Nichts ist wirklich sicher, nichts ausgeschlossen.

Einige Passanten wollen in der Hektik des Montagabends einen Schuss gehört haben, Gerüchte über mehrere Messerstiche machen die Runde, mit denen der Fahrer des Trucks außer Gefecht gesetzt worden sein soll - und auch über die getöteten Besucher des Weihnachtsmarktes ist nicht viel bekannt. Bisher seien erst wenige identifiziert, sagt de Maizière entschuldigend.

Bis zum Abend wollen Polizei und Staatsanwaltschaft noch nicht einmal das Offensichtliche bestätigen, nämlich dass es sich bei dem Toten in der Fahrerkabine um den Cousin des Spediteurs handelt. Obwohl dessen Sattelzug eigentlich bis zu seiner Entladung am Dienstag an der Niederlassung des Konzerns Thyssen-Krupp am Berliner Westhafen hätte stehenbleiben sollen, fallen dem Fuhrunternehmen bei der Überprüfung der GPS-Daten drei Versuche auf, die Zugmaschine zu starten. Allerdings würgt der Mann am Steuer dabei den Motor ab. Um 19.34 Uhr fährt er dann los - mit dem Breitscheidplatz als Ziel, wo der Truck eine halbe Stunde später ankommt. "Es ist, als hätte jemand geübt, ihn zu fahren", sagt ein Mitarbeiter der Spedition.

Große Anteilnahme

Der Anschlag hat nicht nur am Breitscheidplatz eine Spur der Verwüstung hinterlassen, er raubt der Stadt auch ihre Unbeschwertheit. Schweigend sitzen die Menschen am Morgen in den U- und S-Bahnen, die Straßen rings um den Tatort sind gesperrt und gespenstisch leer, während immer mehr Menschen zu Fuß auf den Breitscheidplatz kommen, um ihr Mitgefühl zu zeigen.

Auch auf dem einzigen Weihnachtsmarkt, der in Berlin geöffnet hat - im Stadtteil Prenzlauer Berg - bleiben etliche Buden geschlossen. Dafür laufen Polizisten über den Platz und an den Eingängen werden die Taschen der wenigen Besucher, die hier im In-Viertel noch in Adventsstimmung sind, kontrolliert. Am Nachmittag lässt Kanzlerin Angela Merkel sich zur Gedächtniskirche fahren und legt Blumen nieder.

Auf einem der vielen Schilder zwischen all den Kerzen dort steht nur ein Wort: "Warum?"

Korrespondent

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