Madrid. Das Regelwerk ist voller Merkwürdigkeiten. Am vergangenen Sonntag durften spanische Kinder nach sechs Wochen Ausgangssperre wieder auf die Straße – aber nur mit einem Elternteil.
So lange hatten sich Mama, Papa und die drei Kinder der Familie García gegenseitig in ihrer 90-Quadratmeter-Wohnung in Spaniens Hauptstadt Madrid aushalten müssen. Und wo’s nun endlich nach draußen ging, sollten sie sich trennen. Sie schlugen der Bürokratie ein Schnippchen: Die Mutter nahm die fünfjährige Tochter an die Hand, und der Vater die zehnjährige Tochter und den elfjährigen Sohn, und alle gingen, mit ein bisschen Abstand, zum selben Bolzplatz, wo sie sich wieder trafen. Die beiden Großen spielten Volleyball, die Kleine fuhr mit ihrem Fahrrad, und die Eltern, in gebührender Distanz voneinander, schauten zufrieden zu. Endlich hatten die Kinder wieder Bewegung an der frischen Luft.
Spanien ist neben Belgien das am härtesten von der Covid-19-Pandemie betroffene Land, und damit alles nicht noch schlimmer wird, waren auch die Ausgangsbeschränkungen in Spanien besonders hart. Die meisten Spanier haben das mit eher wenig Murren hingenommen, sie wussten, was in den Krankenhäusern und Altenheimen los ist.
Aber natürlich haben sich alle nach ein bisschen Freiheit gesehnt, besonders Eltern mit kleinen Kindern. Es gab jedoch kein großes öffentliches Gejammere. Dass die Gesundheit vorging, war in Spanien offensichtlich.
Körperlich etwas außer Form
„Unser Elfjähriger ist, sobald wir vor der Tür waren, erstmal losgerannt, vielleicht 500 Meter und wieder zurück“, erzählt die Mutter África García. „Ich wollte wissen, wie gut ich noch in Form bin“, fügt er selbst hinzu. Und? „Naja, ein bisschen schlechter schon.“ Außer Schulsport macht Samuel Fußball, Schwimmen und Karate. Jetzt gibt’s Sportunterricht per Video, das ist ein dürftiger Ersatz. Die Eltern erlauben, dass der Esstisch als Ping-Pong-Platte herhält, und manchmal spielen die Kinder und der Vater im Treppenhaus Ball. Jetzt immerhin sind sie einmal am Tag für eine Stunde draußen.
Die spanische Regierung spricht dieser Tage gern von der „neuen Normalität“. Zurzeit weiß niemand, was eigentlich normal ist und was nicht. Die „neue Normalität“ soll es ab Anfang Juli geben, schätzungsweise – alles hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab. Die scharfe Ausgangssperre hat dafür gesorgt, dass es täglich nicht mehr – wie Ende März und Anfang April – mehr als 800 oder 900 registrierte Covid-19-Tote gibt, sondern wie diese Woche um die 300.
Für den Ausgang aus der Quarantäne stellte Ministerpräsident Pedro Sánchez zuletzt einen etwas verwirrenden Vier-Stufen-Plan vor. Einfach gesagt: Ab Montag wird in jeder Provinz – vergleichbar den deutschen Regierungsbezirken – und auf jeder Insel geschaut, wie viele Coronainfektionen es gibt. Wenn die Gesundheitsbehörden finden, die Entwicklung sei eine günstige, werden sie im Zweiwochenrhythmus Erleichterungen in dieser Provinz oder auf jener Insel zulassen. Und ab Anfang Juli soll alles wieder fast wie früher sein – aber mit Gesichtsmasken, Händewaschen und Abstand.
Vera, die zehnjährige García-Tochter, will vor allem wieder zur Schule. „Ein Video ist doch nicht dasselbe wie der Lehrer“, sagt sie beinahe empört. Und die vielen Hausarbeiten, die sie jetzt zu machen hat, die gibt’s an ihrer Schule sonst nicht. „Mathe,“ sagt sie etwas gequält, „das fällt mir schwer.“
Ihre Mutter hatte sie gedrängt, mit nach draußen zu kommen, aber Vera wollte partout nicht. So hat sie ein zufälliges Zusammentreffen mit ihrer besten Freundin verpasst, die gerade auf der Straße war. „Sie kam auf uns zugelaufen“, erzählt Mutter García, „und wollte uns gleich umarmen. Du weißt ja, wie wir Spanier sind.“ Im letzten Moment bremste die Freundin aber doch noch ab, und es blieb beim Ellbogengruß.
Zur Schule werden Vera und ihre Geschwister nicht so bald wieder zurückkehren. Erst im September. Dieses Schuljahr wird im Heimbetrieb zu Ende gehen. Für die Eltern ist das eine Herausforderung. África García beschwert sich nicht. Sie ist Ärztin und erlebt den Coronaschrecken auf der Arbeit. Die zusätzliche Belastung durch die Kinder im Haus hält sie für tragbar.
Streiten sich die Kinder nicht häufiger? „Weiß ich gar nicht. Kinder, streitet ihr euch häufiger?“ „Ja,“ schallt es zurück. Zum Schlichten ist der Vater da, der arbeitet jeden Tag zu Hause. Weil jetzt alle auf einmal den Rechner brauchen, haben die Garcías drei neue Tablets gekauft. „Eigentlich wollten wir unsere Kinder ja von den Bildschirmen noch eine Weile fernhalten“, sagt die Mutter. „Aber so ist das eben.“
Weil es aber nicht überall so friedlich zugeht wie bei den Garcías, will die Regierung in den kommenden Wochen Ausnahmen von der Schule daheim erlauben: für die unter 6-Jährigen, deren Eltern außerhalb arbeiten, und für Kinder, die besonderer Förderung bedürfen – ohne dass es dafür eine Definition gäbe. Das aber erst ab „Phase 2“, in frühestens vier Wochen. Noch – das hat sich die Regierung so ausgedacht – leben die Spanier in „Phase 0“.
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