Mannheim. Herr König, das Entsetzen nach der Messerattacke in Mannheim ist bundesweit groß. Die rechten Kräfte wollen daraus für sich politisches Kapital schlagen. Glauben Sie, dass diese Rechnung jetzt aufgehen wird?
Thomas König: Mannheim ist ja kein Einzelfall, wir erleben leider in letzter Zeit immer wieder, wie die Emotionen angeheizt werden. Zu meiner Überraschung zeigt unsere Forschung, dass ein neuer religiöser Identitätskonflikt die europäischen Gesellschaften fast genauso spaltet wie die Identifikation mit einer Partei. Es stehen sich also zwei Gruppen gegenüber.
Wie meinen Sie das?
König: Fast jeden Samstag hören wir ja in Deutschland immer wieder diese Hass-Parolen der „Free Palestine“-Bewegung, an der vor allem Muslime beteiligt sind. Sie machen auf der einen Seite mobil gegen Israel und schüren damit Ressentiments. Auf der anderen Seite ist der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien mit deren Anti-Migrations-Kurs begründet, der sich vor allem gegen diejenigen richtet, die aus muslimischen Ländern kommen. Darin sehen die rechten Kräfte eine kulturelle Bedrohung durch den Islam für die christliche Tradition in Europa.
Glauben Sie, dass die Messerattacke den Ausgang der Europawahl am Sonntag beeinflussen kann?
König: Schwer zu sagen. Wir wissen zwar, dass der Täter aus Afghanistan kommt und deshalb ein islamistisches Motiv naheliegt, gleichzeitig tritt die Pax Europa . . .
. . . die ja am Freitag in Mannheim auf dem Marktplatz ihren Informationsstand hatte . . .
König: . . . antiislamisch auf. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die AfD und die Junge Alternative am Sonntag in Mannheim mit ihren Transparenten die Stimmung aufgeheizt haben.
Politikwissenschaftler Thomas König
- Thomas König wurde 1961 in Münster geboren.
- Der Politikwissenschaftler leitet an der Universität Mannheim den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen. Königs Schwerpunkte sind unter anderem die Konfliktforschung und das Regierungssystem in Deutschland.
- In einer aktuellen Studie hat sich König mit der Frage befasst, ob die Absenkung des Wahlalters den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien verhindern kann.
„Remigration – kein Zutritt für Terror“ lautete da die Parole.
König: Genau. Die wollen das alles für sich natürlich ausschlachten.
Die AfD war ja in letzter Zeit in der Defensive. Sie tritt in der Öffentlichkeit zwar für ihr Vaterland ein, aber einige Abgeordnete stehen im Verdacht, als Spione ihr Vaterland an Russland und China verraten zu haben. Deshalb noch mal: Kann die AfD jetzt die Tragödie in Mannheim für sich bei der Europawahl nutzen?
König: Ich bin mir nicht sicher, ob die Messerattacke eine solche bundesweite Dynamik entwickeln kann.
Naja, alle haben sich doch dazu geäußert, auch der Bundeskanzler. Von einem lokalen Ereignis kann man da nicht mehr reden.
König: Das stimmt alles. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass dies auch bei den Wählerinnen und Wählern eine entsprechende Wirkung erzeugt. Allerdings ist der Ausgang der Europawahl insgesamt schwer abzuschätzen, weil der Wahlkampf nicht europäisch ist. Die SPD plakatiert ja sogar mit Kanzler Olaf Scholz, obwohl der gar nicht zur Wahl steht. In einer solchen Gemengelage können dann Ereignisse wie die Mannheimer Messerattacke der AfD bundesweit einige Stimmen einbringen.
Und wie schätzen Sie die Lage in Mannheim ein? Die Stadt lebt ja von ihrem multikulturellen Image. Kommt es da jetzt zu einem bösen Erwachen?
König: Ich habe ja schon vorher die „Free Palestine“-Bewegung angesprochen. Da wurde wochenlang eine Stimmung insbesondere zu Lasten der jüdischen Gemeinde angeheizt. Wir beobachten zum einen eine gruppenspezifische Emotionalisierung von Politik, zum anderen eine Verrohung der Gesellschaft. Denken Sie nur an die Diskussion über Angriffe auf Politiker, die wir in den vergangenen Wochen geführt haben. Die Kombination von einer wachsenden Gewaltbereitschaft mit einer gruppenspezifischen Emotionialisierung birgt Gefahren. Man kann nur hoffen, dass das in Mannheim ein Einzelfall bleibt.
Natürlich ist es fürchterlich, dass ein junger Polizist getötet wurde. Wir haben aber das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit
Wir haben jetzt viel über die aufgeheizte Stimmung gesprochen. Aber in Mannheim hat eine Veranstaltung einer Organisation, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, inzwischen ein Menschenleben gekostet. Sollte man darauf aus Sicherheitsgründen nicht lieber verzichten?
König: Natürlich ist es fürchterlich, dass ein junger Polizist getötet wurde. Wir haben aber das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Das ist ein hohes Gut in einer Demokratie.
Sie meinen, dass wir es als Gesellschaft ertragen müssen, dass es im Extremfall auch Tote geben kann?
König: Gegenfrage: Sollen wir dann künftig alle Demonstrationen verbieten? Wir sind es uns als Gesellschaft und natürlich auch den Angehörigen des toten Polizisten schuldig, dass dann solche Taten auch schneller strafrechtlich aufgearbeitet werden müssen.
Der Bundeskanzler hat ja neben seiner Trauer auch zu Protokoll gegeben, dass der Täter jetzt hart bestraft werden müsste.
König: Das stimmt. Aber wir wissen ja auch, wie überlastet die Gerichte sind und wie ewig sich die Prozesse hinziehen können. Außerdem landen die Amokläufer meistens in der Psychiatrie und nicht im Gefängnis. Vielleicht muss man auch die Polizisten mehr schulen, weil im Extremfall eben nicht nur die Teilnehmer von Veranstaltungen, sondern auch die Beamten selbst ihr Leben riskieren, wenn ein Amokläufer durchdreht.
Sie wollen aber jetzt keine Schuldzuweisungen vornehmen?
König: Nein, aber man sollte alles tun, um zu verhindern, dass noch mehr Opfer zu beklagen sind. Im ersten Moment ist man traurig und fassungslos. Aber danach dürfte klar werden, dass eine Einschränkung des Versammlungsrechts und der Meinungsfreiheit nichts gegen die Kombination aus Emotionalisierung und Verrohung der Gesellschaft bewirken wird.
Wie groß ist denn die Gefahr, dass die Muslime unter Generalverdacht geraten?
König: Ich glaube jetzt nicht, dass jeder Muslim in der Öffentlichkeit als potenzieller Messerstecher wahrgenommen wird. Allerdings bestätigen die muslimischen Reaktionen auf den Palästina-Israel-Konflikt unsere Forschungsergebnisse über einen neu aufkommenden religiösen Konflikt in Europa. Ereignisse wie in Mannheim können kulturelle Ängste gegenüber Muslimen beziehungsweise Islam-Anhängern vergrößern, weil sich viele immer mehr bedroht fühlen. Aus dieser Emotionalität entsteht jedenfalls eine Dynamik.
Inwiefern?
König: Unsere Ergebnisse zeigen, dass schon das Merkmal, Muslim zu sein, zu Diskriminierung führt. Zum Beispiel erfährt ein Muslim, der einer politischen Partei angehört, weniger Solidarität und Vertrauen als ein Christ aus derselben Partei.
Wenn aber ein Muslim einen Anschlag verübt oder einen Polizisten angreift . . .
König: . . . dann sehen sich natürlich viele Menschen in ihren Vorurteilen und Ängsten bestätigt. Das schaukelt die Emotionen noch weiter hoch, und das wiederum greifen Rechtspopulisten gerne auf, um daraus Kapital zu schlagen. Das ist ein gängiges Muster. Angst korreliert aber auch negativ mit Bildung. Das heißt, in den Eliten sind diese Vorurteile nicht mehr so weit verbreitet.
Die Muslime der zweiten und dritten Generation sind auch eine durchaus wahrnehmbare Wählerschaft, weil viele von ihnen inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft haben
Es gibt ja auch in der Union inzwischen Politiker, die anders als früher meinen, dass der Islam zu Deutschland gehört.
König: Natürlich. Das hat damals Alt-Bundespräsident Christian Wulff so formuliert, der für seine Worte in seiner Partei aber noch viel Kritik geerntet hat. Doch inzwischen muss ja auch die CDU, die in ihrem Namen das C ja nicht ohne Grund trägt, den Tatsachen Rechnung zu tragen. Denn die Muslime der zweiten und dritten Generation sind auch eine durchaus wahrnehmbare Wählerschaft, weil viele von ihnen inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Seit der Messerattacke in Mannheim sind die sozialen Netzwerke ja voll mit Hass-Posts der übelsten Sorte. In diesen Kanälen sind ja vor allem junge Leute unterwegs. Wie groß ist denn die Gefahr, dass diese auf diese eklige Propaganda hereinfallen, immerhin dürfen bei der Europawahl jetzt auch 16-Jährige wählen?
König: Wir haben zum Wahlverhalten der Jugend erst gerade eine Studie veröffentlicht, deren Ergebnisse Sie überraschen dürften.
Jetzt bin ich aber neugierig.
König: Normalerweise wählen Menschen, die politisch eher rechts stehen, rechte Parteien.
Das überrascht mich jetzt weniger.
König: Bei der Jugend ist das aber anders. Da gibt es viele, die mit rechtspopulistischen Thesen nichts am Hut haben und dennoch die AfD wählen. Da heißt, sie haben noch keine gefestigte politische Meinung, sondern werden von den sozialen Medien gefüttert. Und dort sind, wie wir wissen, die Rechtsparteien besonders aktiv.
Das heißt TikTok . . .
König: . . . fördert auch den Rechtspopulismus. Und die Jugend, die nicht dem Ideengut der AfD anhängt, wählt sie dann trotzdem, weil die Rechtsparteien in den sozialen Medien ihre ekligen Parolen ungefiltert verbreiten können.
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