Sigmar Gabriel hält zwar trotzig an seinem Plan fest, den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten erst Ende Januar zu benennen. Doch je länger er zögert, umso mehr manifestiert sich der Eindruck, dass der Parteichef und seine Genossen nicht wissen, was sie wollen sollen, wieder einmal. Ob Gabriel nun selbst antritt oder seinem Freund Martin Schulz den Vortritt lässt, dem Präsidenten des Europäischen Parlamentes, spielt dabei noch die geringste Rolle. Für einen Herausforderer, egal wie er am Ende heißt, ist das gegenwärtige Vakuum eine denkbar ungünstige Ausgangsposition. Er soll nicht abwarten, sondern angreifen.
Mit ihrem Auftritt am Wochenende hat Angela Merkel den Bundestagswahlkampf de facto eröffnet. Es wird ihr mutmaßlich letzter sein und zweifelsohne ihr mit Abstand schwierigster. Dass sie verloren gegangenes Vertrauen durch eine Politik von Maß und Mitte zurückgewinnen will, wie sie selbst sagt, muss für viele ihrer Kritiker dabei wie der blanke Hohn klingen. Hat die Kanzlerin auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle nicht genau das vermissen lassen, was sie nun verspricht, nämlich Maß und Mitte?
So sehr ihr Amtsbonus die Union beim letzten Mal auf ein Ergebnis von mehr als 41 Prozent getragen hat, so schwer wiegt die Hypothek, die nun auf ihr lastet. Gemessen wird die Regierungschefin am Wahltag nicht an den guten ökonomischen Daten, dem schuldenfreien Haushalt oder an den Steuerentlastungen, die die Union in Aussicht stellt, sondern vor allem am Management der Flüchtlingskrise.
Sollten die Zahlen nun wieder steigen, der Pakt mit der Türkei letztlich platzen oder gar ein islamistischer Anschlag das Land erschüttern, würde das in erster Linie Merkels Flüchtlingspolitik angelastet - und mit ihr auch CDU und CSU, die in den Umfragen schon jetzt deutlich schlechter dastehen als die gemeinsame Kanzlerin.
So gesehen trifft Gabriel mit der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur auch eine Richtungsentscheidung. Tritt er nach langem Zaudern tatsächlich an, ist das ein klares Signal, dass die SPD die große Koalition fortsetzen will, die Deutschland in seinen Augen sicher durch schwere See gesteuert hat - auch um den Preis, dass die SPD auf der Kommandobrücke nur den Ersten Offizier neben der Kapitänin Merkel stellt.
Mit einer Kandidatur von Schulz dagegen würden sich die Koordinaten deutlich weiter nach links in Richtung Rot-Rot-Grün verschieben. Auch deshalb ist der umtriebige Europäer in der Partei beliebter als der Vorsitzende: Er nährt die Hoffnung, dass es eine Mehrheit jenseits der gegenwärtigen gibt, dass die Sozialdemokratie sich aus der Geiselhaft der Union befreien und selbst den Kanzler stellen kann. Dass dabei jede Menge Wunschdenken mit im Spiel ist, dass eine klare Festlegung auf Rot-Rot-Grün im Wahlkampf lediglich den Konservativen in die Hände spielen würde und ein linker Dreier in den Umfragen im Moment keine Mehrheit hätte - geschenkt.
Die Sehnsucht nach etwas anderem als der großen Koalition ist groß in der SPD. Nicht von ungefähr hat Angela Merkel in ihrer Bewerbungsrede von den Anfechtungen von links gesprochen, die sie im Wahlkampf erwarte, und von der Möglichkeit einer rot-rot-grünen Bundesregierung. Das soll, zum einen, die Reihen in der Union schließen, die damit ein klares Bild von ihrem Gegner hat. Das zeigt, zum anderen, aber auch, wie dünn das Eis ist, auf dem ihre eigene Kandidatin sich bewegt.
Gelänge es einem Herausforderer Schulz, für die SPD vier oder fünf Prozent dazu zu gewinnen, wäre Angela Merkels Kanzlerschaft vermutlich zu Ende.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/politik_artikel,-politik-neue-mehrheiten-_arid,954114.html