Russland

„Minderheiten als Kanonenfutter“

Die Rekrutierung für den Ukraine-Krieg steht unter Rassismusverdacht – es sterben vor allem Soldaten aus Gebieten wie Dagestan

Von 
Alexander Rothe
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Russische Rekruten steigen in einen Bus in der Nähe eines militärischen Rekrutierungszentrums in Krasnodar. © dpa

Berlin. In der russischen Teilrepublik Dagestan flüchtet ein Polizist vor den aufgebrachten Frauen. Andere geben Warnschüsse ab, um sich die aufgebrachte Menge vom Leib zu halten. Aus Jakutien werden Bilder und Videos verbreitet, die eine Gruppe von Frauen zeigen, die Polizisten einkreisen, klatschen und rufen. Sie wollen ihre Väter, Männer und Söhne nicht hergeben für den Krieg in der Ukraine. Laut dagestanischen Medien war der Protest eine Reaktion darauf, dass aus dem Dorf 110 Männer in den Krieg gegen die Ukraine gezwungen wurden.

Seit der russische Präsident Wladimir Putin die Teilmobilmachung angekündigt hat, gehen vermehrt Menschen auf die Straße, um gegen die massenhafte Einberufung zu protestieren. Und das nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern vor allem in den abgelegeneren autonomen russischen Republiken im Nordkaukasus und Sibirien.

Die ethnischen Minderheiten, die in der gesamtrussischen Gesellschaft etwa 20 Prozent ausmachen, stellen bislang einen Großteil der Truppen, die für Russland in der Ukraine kämpfen. Recherchen des britischen Senders BBC und des russischen Medienunternehmens Mediazona belegen, dass die meisten russischen Soldaten und Gefallenen aus ärmeren Gebieten kamen, wie Dagestan, Burjatien oder Krasnodar.

Sie berufen sich auf öffentlich zugängliche Daten und weisen darauf hin, dass ihre Zahlen wahrscheinlich viel zu niedrig sind. Russland hält sie geheim, deshalb sind belastbarere Aussagen über Gefallene kaum möglich. Nur wenige russische Soldaten kommen demnach aus den Zentren wie Moskau, obwohl dort fast neun Prozent der russischen Bevölkerung leben. Laut aktuellem Stand des Projektes vom 23. September sind seit dem Einmarsch in die Ukraine mindestens 6756 Russen gefallen – 24 Moskauer, während es allein aus Dagestan 306 getötete Soldaten sind.

Bakhti Nishanov, Mitarbeiter der US-Kommission über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, schrieb auf Twitter, dass die Teilmobilisierung wieder unverhältnismäßig viele Männer aus Tschetschenien, Jakutien, Burjatien und Dagestan treffe. „Wenn sich dies bewahrheitet, handelt es sich zweifellos um einen systematischen Versuch, die ethnischen Minderheiten als Kanonenfutter einzusetzen.“ Ist Putins Krieg rassistisch?

Für Timothy Snyder, renommierter Yale-Historiker mit dem Schwerpunkt Osteuropa, deutet sich genau das an. Für ihn ist der Krieg gegen die Ukraine gewissermaßen ein imperialer Krieg gegen die eigenen nicht- russischen Minderheiten. Während größtenteils Soldaten aus asiatischen Regionen an die Front geschickt werden, würden massenhaft ukrainische Frauen und Kinder nach Russland deportiert – für Snyder der Beweis, dass Russland „weißer“ gemacht werden soll, schreibt er auf Twitter.

Die Autoren der BBC- und Mediazona-Auswertung sehen andere Gründe: „Demografie, ausgeprägte Einsatzbereitschaft für das Militär, große Anzahl von stationierten Militäreinheiten in diesen Regionen, niedrige Gehälter und Arbeitslosenquote machen die Armee attraktiv für junge Männer“, heißt es zur hohen Rekrutierungsrate in diesen sehr viel ärmeren Regionen.

Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, sieht vor allem politisches Kalkül hinter den Einberufungen ethnischer Minderheiten: „Das Risiko von Protesten ist in den ärmeren Regionen weniger wahrscheinlich“, sagte er dieser Redaktion. Zwar gebe es die Ungleichheiten, die sich in der Einberufungspraxis des Krieges deutlich zeigten, aber „Russland vertritt den ideologischen Anspruch, alle Nationalitäten in den russländischen Staat einzubinden“, so Schmid.

Mit diesem Integrationsanspruch habe sich Russland auf internationalem Parkett gebrüstet. Er sei integraler Bestandteil des außenpolitischen Konzepts „Russkij Mir“ – auf Deutsch lässt es sich sowohl mit „russischer Welt“ als auch „russischer Frieden“ übersetzen. Präsident Putin habe es Anfang der 2000er-Jahre eingeführt und damit Interventionen in anderen Ländern legitimiert, wo Russen angeblich in Gefahr seien – beispielsweise bei der Krim-Annexion. Russen seien dabei alle, die Russisch sprechen und empfinden.

Es handele sich um kein ethnozentrisches Konzept, erklärt Stefan Meister, Russland-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). „Es hat erst mal nichts Rassistisches, weil es übergreifend ist und sowohl russischsprachige und -denkende Menschen aus Kasachstan wie auch Armenien oder anderen Staaten einbeziehen kann.“

Allerdings habe nach Putins erneutem Amtsantritt 2012 die Besinnung auf den slawischen Ursprung an Bedeutung gewonnen. Der Gedanke, es brauche mehr Ostslawen in Russland, rückte die Eingliederung der Ukraine mit einer mehrheitlich ostslawischen Bevölkerung in den Fokus. Zusätzlich wurde das erweiterte Konzept religiös überhöht, indem fortan von der „Dreieinigkeit“ von Russen, Ukrainern und Belarussen die Rede war. Damit habe ein rassistisches Element Einzug gehalten, das in der Begründung für den Einmarsch in der Ukraine zum Tragen kam: „Der Kreml behauptet: Die Ukrainer haben kein Recht, eine Nation zu sein, und sie sind kein Teil des russischen Ethos. Das ist für mich das eigentlich Rassistische“, so Meister.

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