Großer Zapfenstreich

Kanzlerin hat zum Abschied ungewöhnliche Musikwünsche

Von 
Miriam Hollstein
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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält bei ihrer Verabschiedung durch die Bundeswehr eine Rede. © dpa

Berlin. Es ist einer der emotionalsten Momente auf ihrem Weg des Abschieds aus dem Amt: Umrahmt von Fackelträgern sollte Angela Merkel am Donnerstagabend auf dem Paradeplatz des Verteidigungsministeriums in Berlin den Großen Zapfenstreich abnehmen.

Mit diesem Zeremoniell werden herausragende politische Persönlichkeiten – in der Regel Bundeskanzler, Bundespräsidenten oder Minister – geehrt. Das Besondere: Jeder darf sich selbst die Lieder wünschen, die das Stabsmusikkorps der Bundeswehr spielt. Und so ist der Zapfenstreich stets auch ein musikalisches Vermächtnis, welches viel über die Person verrät.

Merkels Amtsvorgänger Gerhard Schröder fasste nach seiner Abwahl mit Frank Sinatras „I did it my way“ trotzig-selbstbewusst sein Lebensmotto zusammen; der über sein Doktorplagiat gestürzte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg inszenierte sich mit der Rockhymne „Smoke on the water“ noch ein letztes Mal als einen Mann, der nie ganz in den Politikbetrieb passte. Aber was sagt Merkels Musikwahl über jene Frau aus, die nach Helmut Kohl am zweitlängsten das Land geführt hat?

„Großer Gott, wir loben dich“

Dieser Klassiker unter den Kirchenliedern, vom deutschen Priester Ignaz Franz um 1770 gedichtet, ist unter den drei Stücken die am wenigsten überraschende Wahl. Ihr christlicher Glaube war für die Protestantin Merkel nicht nur stets zentraler Bestandteil ihrer Identität und Wertekompass. Er passt auch zu ihrer politischen Orientierung. Die CDU ist neben der CSU die einzige Partei, die die Zuschreibung des Christlichen schon im Namen für sich in Anspruch nimmt. Es ist eine der drei Wurzeln (neben der konservativen und der liberalen), auf die sich die Partei immer wieder beruft. Jeder Parteitag beginnt mit einem Gottesdienst, bei fast jeder persönlichen Vorstellung im Rahmen einer parteiinternen Wahl wird neben dem Familienstand auch die Konfession genannt. Als Pfarrerstochter ist Merkel besonders eng mit der protestantischen Kultur aufgewachsen. Sie kann fast alle Kirchenlieder auswendig mitsingen. Zugleich war ihre Herkunft auch immer eine Art Ausweis, dass sie in der DDR nie völlig angepasst gelebt hatte. Zwar war sie anders als die Kinder vieler anderer christlicher Familien auch Mitglied bei den Pionieren und später FDJ-Sekretärin gewesen. Aber beinahe hätte sie nicht studieren dürfen, weil sie bei einer von ihr mitorganisierten Klassenveranstaltung die Internationale auf Englisch sang. Nur die kirchlichen Beziehungen ihres Vaters retteten sie: Dieser schrieb einen Brief an den damaligen Konsistorialrat (und späteren brandenburgischen Ministerpräsidenten) Manfred Stolpe und rettete so ihren Studienplatz.

Nicht zuletzt fasst „Großer Gott, wir loben dich“ auch ein christliches Leitprinzip zusammen: das Bewusstsein, in allem Tun einer höheren Macht verpflichtet zu sein.

„Für mich soll’s rote Rosen regnen“

Dieser Chanson aus dem Jahr 1968 ist eines der bekanntesten Lieder von Hildegard Knef. Sie selbst hat es einmal ein „hochaggressives Lied“ genannt und so gedeutet: „Für mich soll’s rote Rosen regnen, was den anderen passiert, ist mir so ziemlich egal.“

Es ist ein schöner, hintersinniger Kontrapunkt zur Demut im Kirchenlied, den Merkel gewählt hat. Die Botschaft: Ich habe 16 Jahre diesem Land gedient – jetzt bin ich dran. Ein Privatleben hat es für Merkel in diesen Jahren kaum gegeben. Umso kostbarer waren für sie die kleinen Momente, die sie ihrem übervollen Terminkalender abtrotzte. Die Wochenenden, die sie in ihrer Datsche in der Uckermark verbrachte, das Einkaufen in „ihrem“ Supermarkt, das sie sich nicht nehmen ließ, die unprätentiösen Urlaube an den immer selben zwei Orten in Südtirol und auf Ischia. Hinzu kommt: Die unangepasste Hildegard Knef stand für jenen Typus der selbstbewussten unabhängigen Frau, den Merkel aufgrund der politischen Zwänge nie leben konnte.

„Du hast den Farbfilm vergessen“

Es ist die heimliche Hymne vieler Ostdeutscher. Es geht um Ostseeurlaube als kleine Fluchten aus grauer sozialistischer Tristesse, aber auch um subversive Kritik am DDR-Regime. Gesungen 1974 von der Punk-Ikone Nina Hagen, deren Mutter Eva-Maria mit dem Liedermacher und Dissidenten Wolf Biermann liiert war. Nach seiner Ausbürgerung verließ bald danach auch Hagen die DDR. Auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Wahl für Merkel, für die trotz biografischer Distanz zur SED ein solcher Schritt nie infrage gekommen wäre.

Nach der Wiedervereinigung hat Merkel ihre ostdeutsche Herkunft lange kaum thematisiert, was für viele Ostdeutsche eine Enttäuschung war. Doch zu groß war wohl ihre Sorge, in der Bonner Republik als „Quoten-Ossi“ abqualifiziert zu werden. In der gestrigen Pressekonferenz zu den neuen Corona-Regeln, nur ein paar Stunden vor ihrem Zapfenstreich, antwortete sie auf die Frage, warum sie gerade dieses Lied für ihren Abschied ausgesucht habe: „Das Lied war ein Highlight meiner Jugend, die ja bekanntermaßen in der DDR stattgefunden hat. Und das Lied kam auch aus der DDR, zufälligerweise spielt es auch noch in einer Region, die früher mein Wahlkreis war, insofern passt alles zusammen.“ Ein spätes Bekenntnis und eine Geste der Versöhnung. Denn neben aller Kritik schwingt darin auch das Gefühl mit, dass die DDR nur verstehen kann, wer in ihr gelebt hat.

Am Ende des Zapfenstreichs wird die Nationalhymne gespielt und Angela Merkel offiziell „abgemeldet“. Übersetzt heißt das, dass ihr Dienst fürs Land beendet ist. Ein neues Leben beginnt.

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