Nach den Krawallen während des G20-Gipfels in Hamburg fordern Politiker ein härteres Vorgehen gegen Autonome und ihre Sympathisanten. Bisher konnten militante Gesellschaftskritiker mit Toleranz rechnen.
Es heißt ja immer, dass wir mit "links" oder "rechts" das politische Spektrum heute nicht mehr kennzeichnen können, aber so schnell sterben die alten Klassifizierungen nicht aus. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn ein Zeitgenosse als "überzeugter Linker" eingeführt oder ein anderer als "Rechtsaußen" vorgestellt wird. Gewaltaffin waren und sind die Extreme auf beiden Seiten. Und der Mainstream und die Mitte, sie machen den Aktivisten, wenn sie den Rasen betreten, Steine schmeißen oder Autos anzünden, den Vorwurf, sie störten und beschädigten nicht nur den Landfrieden, sondern auch ihre eigenen politischen Ziele. Bleiben wir bei den Linksradikalen.
Als sich um das Stichjahr 1968 herum die Neue Linke herausbildete, gab es von Anfang an mediale Aufregung um diese langhaarigen jungen Leute, die auf die Straße gingen, den Vietnamkrieg verurteilten und ihre Empörung über Alt-Nazis in der Politik ausdrückten. Die ferner in Wohnkommunen lebten, Haschisch rauchten und freie Liebe propagierten. Da war wieder was los im Land.
Linkssein hieß aber auch, über Sozialismus reden, das Privateigentum in Frage stellen und die Hierarchien im sozialen Leben angreifen. Die "Bild" und die Polizeiführung sahen sich dazu aufgerufen, dem Jungvolk kräftig die Meinung zu geigen und auf die Rübe zu hauen - an die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg im Juni 1967 wurde kürzlich vielerorts in Zeitungen erinnert. Die Protestler hockten sich zusammen, ließen die Pfeife kreisen und fanden, dass es mit den polizeilichen Übergriffen so nicht weiterginge. Die Frage der Gegengewalt stand im Raum.
Alleingang der Autonomen
Das war die Geburtsstunde der RAF, der Roten Armee Fraktion, und auch der Autonomen. Zwar herrschte das staatliche Gewaltmonopol, aber wenn der Staat Verbrecher schützt - die Kapitalistenklasse galt vielen in toto dafür -, ist dann nicht Widerstand gerechtfertigt, auch mit der Waffe in der Hand? Die Gewaltfrage spaltete die Neue Linke, wobei die Befürworter den sehr viel kleineren Teil bildeten. Aber auch der große Teil, der für Reformen eintrat und die Revolution in den sogenannten Überbau verlegte, dachte immer wieder über diese Frage nach. Schließlich haben sich all jene, die man heute Alt-Linke nennt und die als Neu-Linke hinzugekommen sind, dafür entschieden, Gewalt als politisches Mittel entschieden abzulehnen. Nur die Autonomen nicht.
Man muss dazu wissen, dass die von einem neu interpretierten Marxismus beeinflusste Linke um 1968 sich auch in der Tradition der (russischen und spanischen) Anarchisten und Syndikalisten sah. Eigentlich ging das gar nicht zusammen, Marxismus und Anarchismus - aber die Neue Linke hat es irgendwie geschafft, die beiden Bewegungen in eine Konvergenz, eine Übereinstimmung zu führen und zu ihrer Tradition zu erklären.
Tolerierte Hausbesetzungen
So war es am Anfang. Später differenzierte sich das alles aus. Aber das schwarze Männlein mit der Bombe und das schwarze A mit dem Kreis drum waren immer dabei. Der Glaube daran, eine befreiende Gewalttat, ein Brand, ein Knall, ein Attentat könne die Gesellschaft retten, blieb als eine Art Tabu, das man brechen könnte, im Bewusstsein vieler Aktivisten - bis heute. Wenn man sich die weltweit wachsende Ungleichheit und die Deregulierungspolitik im Zeichen des Neoliberalismus anguckt, müsste ein Restverständnis dafür sogar aufkommen.
Eine Welle innerhalb der Neuen Linken, in der sich die illegale Aktion - meist unterhalb, manchmal auch oberhalb der Gewaltschwelle - bestens kommunizieren ließ, war die Hausbesetzerbewegung. Der große Vorteil dieser Szene war das Praktische, das Dinghafte, das Konkrete. Ein Haus - das konnte man anfassen, da konnte man reingehen, da konnte man sogar drin wohnen. Und wenn die falsche Verteilung der Güter unter den Menschen dazu führte, dass Häuser leerstanden und der gewollten Verwahrlosung überlassen wurden, dann konnte man was dagegen tun: durch illegale Inbesitznahme und militante Verteidigung, wenn eine Räumung drohte.
Die Praxis rund um den Häuserkampf - in der Hamburger Hafenstraße bauten die Besetzer sogar eine Zugbrücke, um die Polizei am Zugang zu den Häusern zu hindern - ließ sich sehr viel besser vermitteln und verstehen als etwa die Militanz beim Kampf gegen AKWs oder für Frieden. Ein Platz, der besetzt wurde, damit später kein AKW darauf gebaut wurde, oder eine "atomwaffenfreie Zone" im Vorgarten litten unter der Symbolhaftigkeit, also Abstraktheit dieser Widerstandsformen.
Solidarität mit Befreiungskampf
Auch die Solidarität mit dem Vietcong war vergleichsweise kompliziert einzufordern und durchzuhalten - der Konflikt weit weg, die Guten und die Bösen nicht auf einen Blick erkennbar. Der Häuserkampf, bei dem die "Autonomen" verschärft mitmischten, hatte solche Vermittlungsprobleme nicht, er erklärte sich von selbst. Wenn es so war, dass ein Haus, das problemlos in Stand zu besetzen wäre, nur wegen der Profite eines Spekulanten abgerissen werden sollte, während viele Menschen vergeblich eine Wohnung suchten, dann stimmte etwas nicht, dann war Widerstand gerechtfertigt. Und Widerstand hieß auch: sich gegen eine Räumung wehren, sich mit der Polizei prügeln und Knast in Kauf nehmen.
So war denn auch die Hausbesetzerbewegung, die während der 1970er und 1980er Jahre nicht nur in Deutschland losging, von allen linken Projekten der Zeit dasjenige mit den höchsten Zustimmungswerten aufseiten der sogenannten normalen Bevölkerung. Gut erhaltene Altbauten plattmachen, um mit Bürotürmen mehr Geld zu verdienen und die Innenstädte zu verschandeln -dass diese Strategie eine ähnliche Nähe zur Kriminalität besaß wie Steuerflucht und Waffenschieberei, leuchtete jedem ein.
Wachsende Wut über Armut
Die Hausbesetzerszene hat sich inzwischen - weitgehend - verlaufen. Aber die Wut von damals hängt noch in der Atmosphäre, nur findet sie, wenn sie in Aggression umschlägt, keine so konkreten Ziele mehr, wie es leerstehende Häuser waren. Die Probleme sind ja nicht gelöst. Was die Polizei verteidigt, ist immer noch vorrangig das Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie an Grund und Boden mit den darauf stehenden Häusern, während die Habenichtse dieser Welt, deren enorme Zahl im Zuge der Globalisierung immer deutlicher sichtbar wird, über die Grenzen drängen.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer tiefer, und die Wut vieler Freunde der Gerechtigkeit über die Kaltblütigkeit, mit der sich die großen Tiere dieser Welt Minister kaufen und Pfründe sichern, während die kleinen Leute in die Röhre gucken, wird immer heißer. Aber wie macht man das, dass man diese Kluft anklagt und diejenigen, die sie so gewissenlos vertiefen, zur Rechenschaft zieht?
Wohl kaum dadurch, dass man ihre Konferenzen mit militantem Feuerwerk begleitet. Das Problem mit der "Kluft" ist ihr Abstraktheitsgrad. Man kann die Dinge von Fall zu Fall, etwa bei der Bankenkrise, dem Klimawandel, den Migrationsströmen, auf einigermaßen konkrete Szenarien herunterbrechen. Aber auch hier bleibt stets ein Rest von Fragen, die schwer zu beantworten sind. Die Herausforderung für die Mutigen und Wütigen, für diejenigen, die das alles nicht mehr ertragen, liegt darin, etwas ähnlich Konkretes zu finden wie es vor einer Generation die Hausbesetzungen waren. Das ist bisher nicht gelungen. Und die Gewalt, die von den Schwarzen Blöcken am 1. Mai in Berlin und jetzt während des G20-Gipfels in Hamburg ausgeübt wurde, wirkt genauso unerklärt, ziellos, zwanghaft und abstrakt wie die "Kluft" selbst.
Spaß am Krawall
Die Militanten wollten ein Zeichen setzen, das darüber aufklärt, wie verbrecherisch die mächtigen Industrienationen am realen Elend dieser Erde vorbei regieren und vorbeireden. Und das ging ins Leere. Die Wut ist noch dieselbe, die ihre Väter dazu veranlasst hatte, eine Zugbrücke zu bauen, damit ihr Haus nicht geräumt wird. Aber die Aktivisten von heute bauen nichts mehr, sondern werfen Brände in die Nacht. Verzweiflungstaten? Ja. In zweierlei Hinsicht: Die Leute, die das machen, sind verzweifelt. Und die Lage, gegen die sie verzweifelt protestieren, ist es auch. Dass sich Rowdys daruntermischen, die einfach Spaß am Krawall haben und weder selbst verzweifelt sind, noch die Lage analysiert haben, versteht sich. Für die Mehrzahl derjenigen aber, die sich vermummen und Steine werfen, gilt das nicht. Sie sind wirklich zutiefst unzufrieden mit der Gesamtsituation.
Soll das etwa heißen, dass sie deshalb Autos anzünden dürfen? Natürlich nicht. Es ist aber für ein Verständnis der Lage besser, ihnen ihre Tradition zu lassen, die bis zur Anti-AKW-Bewegung und zur Hausbesetzerszene, streng genommen bis zu Michail Bakunin zurückreicht, als sie zu bloß krawallsüchtigen Chaoten zu erklären, wie rechte Politiker das seit jeher mit geringer Überzeugungskraft getan haben. Auch ihre einstigen Bemühungen, die RAF-Kader zu "gewöhnlichen Kriminellen" zu erklären, haben nichts gefruchtet, sie haben nur den Mythos vertieft, von dem heute noch so mancher Autonome zehrt.
Beschädigung politischer Ziele
Aber der G20-Gipfel ist ein völlig sinnfreier Anlass für Gewalt von unten. Niemand versteht, warum Läden geplündert werden müssen, weil Donald Trump und Wladimir Putin oder Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan sich unterhalten. Es ist gut, wenn sie das tun! Und man kann ihnen durch friedliche Demonstrationen mit aussagestarken Transparenten zusätzlichen Diskussionsstoff liefern. Aber für den Schritt vom Weg der Legalität sind ihre Konferenzen ein völlig ungeeigneter Anlass.
Das ist das Problem: Der Zorn wächst mit der "Kluft", aber die Kluft ist erstmal nicht mehr als eine Metapher - wie ja auch so ein Gipfel im Wortsinn total abgehoben ist. Es hilft nichts, man muss die großen Krisen so weit auf konkrete Zusammenhänge, sozusagen auf "Häuser", die man besetzen kann, herunterbrechen, bis eine Intervention etwas wendet und sich von selbst erklärt. Andernfalls beschädigt man tatsächlich die eigenen politischen Ziele.
Barbara Sichtermann
Barbara Sichtermann (Jg. 1943, Bild), ist Publizistin und Schriftstellerin und gilt als eine der Intellektuellen der 1968er.
Soeben veröffentlichte sie mit Kai Sichtermann das Buch "Das ist unser Haus" über die Hausbesetzerszene in Berlin (Aufbau, Berlin, 300 Seiten, 26,95 Euro). Der Buchtitel zitiert einen Liedtext von Rio Reiser.
Sichtermann arbeitet für diverse Medien und war bis 2015 Jurorin des Grimme-Preises und von 2010 bis 2012 Jurorin des Hauptstadtkulturfonds. malo (Bild: dpa)
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