Bedroht, geschlagen, „mitschuldig“ gemacht: Verbrechen gegen Frauen ereignen sich jeden Tag in den verschiedensten Kontexten. Ein Einblick in das, was in der Gesellschaft oder hinter verschlossenen Türen passiert.
Worte als Waffe – Psychoterror
Keine Schrammen, keine blauen Flecken, keine Platzwunden – psychische Gewalt hinterlässt keine sichtbaren Spuren, kann aber genauso gefährlich und zerstörerisch sein wie Handgreiflichkeiten. Häufig beginnt seelische Gewalt als schleichender Prozess: Der Täter – meistens ein Mann – verletzt persönliche Grenzen, beleidigt, beschuldigt, mobbt das Opfer. Überwacht die Frau digital.
Aus extremer Eifersucht erlaubt er ihr nicht mehr, sich mit ihren Freunden zu treffen. In der Öffentlichkeit macht er sich über sie lustig, erniedrigt sie oder verbreitet Lügengeschichten (Verleumdung), gibt ihr das Gefühl, nicht liebenswert zu sein. Dann folgt ein regelrechter Psychoterror: Bedrohungen – auch Morddrohungen – Stalking, Nötigung. In Deutschland wurden rund 28 000 Frauen laut der Auswertung des Bundeskriminalamts im Jahr 2018 Opfer dieses Psychoterrors, etwa 1600 Frauen wurde im selben Jahr ihre Freiheit geraubt.
Die seelische Belastung äußert sich bei jeder Frau anders: Manche ziehen sich aus ihrem sozialen Leben immer mehr zurück, entwickeln Schlafstörungen und eine Depression. Manche erleiden chronische Schmerzen, Migräne, eine Magen-Darm-Erkrankung oder Blaseninfektion. Betroffene selbst, aber auch ihre Umgebung, nehmen emotionale Gewalt viel zu spät wahr. Umso wichtiger ist es, dass diese Art von „leiser Gewalt“ aus der Tabuzone herausgenommen wird.
Nein heißt Nein
In Deutschland gilt seit dem 10. November 2016 nach der Reform des Sexualstrafrechts: Nein heißt Nein. Der Auslöser: Die Kölner Silvesternacht 2015/16, in der laut einem Abschlussbericht des Bundeskriminalamts Hunderte Mädchen und Frauen Opfer von Sexualdelikten wurden. Seit der Verschärfung macht sich nicht nur strafbar, wer sexuelle Handlungen mit Gewalt oder Gewaltandrohung erzwingt. Strafbar ist bereits, wenn sich der Täter über den „erkennbaren Willen“ des Opfers hinwegsetzt – also das Opfer beispielsweise „Nein“ sagt, weint oder sich anderweitig wehrt. Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe hat keine Einschätzung dazu, ob eine weitere Reform nötig ist oder nicht. Das liege daran, dass durch die langen Verfahrensdauern nicht viele Prozesse nach dem neuen Recht von Anfang bis Ende durchgeführt wurden.
Europaweit wird aktuell die Istanbul-Konvention des Europarats diskutiert. Sie soll einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen, um Frauen durch verschiedenste Maßnahmen vor Gewalt zu schützen. Auch Deutschland – und 32 weitere Staaten – hat sie ratifiziert. Nach Angaben von UN Women Deutschland musste die Bundesrepublik im April 2020 einen Bericht zur Einhaltung der Maßnahmen einreichen. Trotz Corona-Krise sollen 2021 Evaluationsbesuche stattfinden. In einigen Ländern, wie in Polen oder der Türkei, gibt es indes Überlegungen, aus dem Abkommen wieder auszusteigen.
Sie ist doch selbst schuld
Wenn Frauen Männer der sexualisierten Gewalt beschuldigen, passiert in manchen Teilen der Gesellschaft etwas völlig Absurdes: Die Schuld für den Übergriff wird zunächst beim Opfer selbst, also der Frau, gesucht. Sie hatte einen viel zu kurzen Rock an, hat viel zu viel getrunken. Sie hat geflirtet und mit dem Typ rumgemacht. Sie hatte Reizwäsche an, sie wollte es. Wieso war sie denn um die Uhrzeit allein in der Dunkelheit unterwegs? Selbst schuld, wenn sie belästigt, genötigt, vergewaltigt wurde.
Mit dem Begriff Täter-Opfer-Umkehr, im Englischen Victim Blaming, bezeichnen Psychologen genau das: die Umkehrung der Rollen von Täter und Opfer nach einer Straftat. Seit den 1970er Jahren, und in den USA geprägt, wird Victim Blaming auch von Juristen vor dem Strafgericht als Strategie verwendet, um den Angeklagten zu entlasten. Wieso eine Opferbeschuldigung in der Bevölkerung stattfindet – dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel, weil man sein eigenes Sicherheitsempfinden „schützen“ möchte. Oder man einige Merkmale und Ansichten mit dem Täter teilt.
Einen beunruhigenden Einblick gibt auch eine Umfrage der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2016: Demnach gaben zehn Prozent der 27 818 Befragten an, dass eine Vergewaltigung gerechtfertigt ist, wenn die Frau „freizügig“ bekleidet war, zwölf Prozent, wenn sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand. Weitere „Gründe“: flirten (sieben Prozent) oder mehrere Sexualpartner (sieben Prozent).
Der vermeintlich Starke und die Schwache
Charaktere von Opfern und Tätern pauschalisierend darzustellen, ist sehr schwierig. Was man jedoch sagen kann, ist, dass Gewalt eine Machtdemonstration ist. Es gibt einen vermeintlich Schwachen (meistens Frauen) und einen vermeintlich Überlegenen (meistens Männer). So oder ähnlich wird es von vielen Vereinen wie re-empowerment beschrieben. Der Mann ist aufgrund ungleicher Aufgaben- und Rollenverteilungen im Geschlechterverhältnis davon überzeugt, dass er über die Frau und ihr Leben bestimmen darf. Er schlägt sie, weil sie nichts gekocht, weil er Ärger auf der Arbeit oder die Kontrolle über sich selbst verloren hat. Er schlägt sie, weil sie Schuld an allem ist. Vor Gericht leugnen, bagatellisieren oder verfälschen Männer das Geschehene, versuchen, den Gewaltausbruch zu rechtfertigen („Sie hat mich provoziert“). Verschärft wird das Problem durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch.
Viele Frauen wollen dagegen die Gewalt – ob seelisch oder physisch – nicht wahrnehmen. Aus Scham oder weil sie ihren Mann in Schutz nehmen wollen, ihn sogar noch lieben, streiten sie ab, Gewalt erfahren zu haben. Vielleicht möchten sie auch daran glauben, dass er sich ändern kann. Oft sind Frauen auch finanziell von ihrem Täter abhängig, haben keinen Zufluchtsort, haben Angst davor, in der Gesellschaft stigmatisiert zu werden, oder bei einer Trennung noch massiverer Gewalt ausgesetzt zu sein. Darüber hinaus besteht die Sorge um den Schutz der (gemeinsamen) Kinder.
Phänomen fremder Kulturen?
Gewalt gegen Frauen ist kein Phänomen anderer Kontinente, fremder Kulturen oder alter Zeiten. Sie ist nichts, was nur, wie oft behauptet, in islamischen Staaten stattfindet – sondern überall auf der Welt. Armut, Bildung, Erziehung – es gibt Dutzende Faktoren, die als mögliche Gründe berücksichtigt werden müssen. Der vom Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen geprägte Ausdruck „schädliche traditionelle Praktiken“ bezieht sich auf die Arten von Gewalt, unter denen Frauen in bestimmten Gesellschaften schon so lange leiden, dass sie als Teil der jeweiligen Kultur angesehen werden.
Häufig wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Rape Culture“ (Vergewaltigungskultur) verwendet, soziale Milieus also, in denen sexualisierte Gewalt so verbreitet ist, dass sie scheinbar toleriert wird. Frauen, denen nicht die gleichen Rechte zugesprochen werden wie Männern; wirtschaftliche Diskriminierungen wie beim geschlechtsspezifischen Lohngefälle; Zwangsverheiratung von Mädchen durch ihre Mütter und Väter für Geld; herabwürdigende Darstellungen von Frauen in Medien, wo sie als „Stück Fleisch“ objektiviert werden; Verstümmelung der weiblichen Genitalien, um „rein“ zu werden; Morde und Säureattentate „aus Gründen der Ehre“; Auspeitschen und Steinigung von Frauen, weil sie Ehebruch begangen haben; Frauen, die in Kriegsgebieten systematisch vergewaltigt oder auf Sklavenmärkten versteigert werden.
Vom (Ex-)Partner getötet
In den Medien werden häufig Begriffe wie „Familientragödie“, „Eifersuchtsdrama“ oder „Beziehungstat“ verwendet, um das Geschehene zu umschreiben: Femizid, also der Mord an einer Frau, weil sie eine Frau ist. Im Jahr 2018 wurden nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) 122 Frauen von ihrem Ehemann oder Ex-Ehemann, ihrem Partner oder ihrem Ex-Partner umgebracht. Die Tötungen umfassen die Straftaten Mord und Totschlag sowie Körperverletzung mit Todesfolge.
Jeden dritten Tag wird in Deutschland also eine Frau umgebracht, die meisten der Opfer leiden in ihren eigenen vier Wänden eine lange Zeit, bevor ihnen das Leben genommen wird. Mehr als 11 000 Frauen wurden laut BKA im selben Jahr von ihren (ehemaligen) Lebensgefährten körperlich verletzt, 2753 Ermittlungen in den Straftaten „sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung“ abgeschlossen. Die Zahlen liegen in allen Formen der Gewalt weit höher. So umfasst auch die Zahl 122 in der Statistik lediglich die „Partnerschaftsgewalt“. Frauen erfahren körperliche und sexualisierte Gewalt nicht nur durch ihre Partner – sondern auch von Familienangehörigen. Und Fremden.
Besonders betroffen sind Schutzbefohlene, Alte, Gebrechliche und Pflegebedürftige oder Menschen mit seelischer oder körperlicher Behinderung. Sie können sich nicht wehren, sind nicht einmal in der Lage auszusprechen, was ihnen Tag für Tag widerfährt.
Hilfe suchen, Hilfe anbieten
Nur ein Bruchteil der Opfer, die Gewalt und Belästigung erfahren, melden diese auch. Aus Angst oder weil es vielleicht einfacher ist, zu verdrängen, statt laut auszusprechen, was einem widerfahren ist – oder noch immer widerfährt. Das sollte nicht sein, vor allem nicht, weil es hierzulande Dutzende Angebote gibt, die helfen, einer Gewaltspirale zu entkommen.
Ein Auszug: Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ berät unter der Rufnummer 08000/116 016 und online auf www.hilfetelefon.de zu allen Formen von Gewalt – rund um die Uhr und kostenfrei. Die Beratung erfolgt anonym und in 17 Fremdsprachen. Organisationen wie der Weisse Ring (Tel.: 116 006) unterstützen Opfer, indem sie sie unter anderem zu Polizei-, Gerichts- und Behördenterminen begleiten und helfen, eine neue Wohnung zu finden. Auf der Seite www.frauenhauskoordinierung.de kann ein passendes Frauenhaus in der eigenen Stadt gefunden werden. Auch die Polizei (110) kann eingreifen, den Täter der Wohnung verweisen und ein Rückkehrverbot für mehrere Tage aussprechen. Das Gewaltschutzgesetz erlaubt es Opfern, zivilrechtlichen Schutz zu beantragen. Das Familiengericht kann beispielsweise bestimmen, dass der Täter eine gewisse Entfernung zum Opfer oder dessen Kindern einhalten oder den Kontakt komplett abbrechen muss. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe bleibt durchgehend: (mögliche) Gewaltopfer ansprechen und Hilfe – egal welche – anbieten.
Ein lukratives Geschäft
In Deutschland sind fast 33 000 Prostituierte gemeldet, die meisten sind Deutsche oder stammen aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes ist sich sicher: Prostitution hat nichts mit der Entfaltung der weiblichen sexuellen Freiheit zu tun – sondern mit Missbrauch. Viele Frauen nehmen Drogen, Alkohol oder Psychopharmaka, um das Geschehene ertragen zu können. Sie berichten, in Bars, Bordellen, Privatwohnungen oder auf Hotelzimmern von Freiern verletzt zu werden. Das lukrative Geschäft, das oft mit organisierter Kriminalität in Verbindung steht, ist hierzulande legal – und das, obwohl mehrere Studien bewiesen haben, dass das Prostitutionsgesetz (2011) die Lebensumstände der Prostituierten kaum bis gar nicht verbessert hat.
Illegal ist dagegen die Praxis, Menschen zur Arbeit als Prostituierte zu zwingen (2016). Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen wurden im Jahr 2018 insgesamt 430 Opfer – fast ausschließlich weiblich – in den Verfahren des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung festgestellt. Auf jedes dritte Opfer wurde mit psychischer und/oder physischer Gewalt Einfluss genommen. Die Frauen wurden durch ihre Zuhälter überwacht, ihnen wurde gedroht, ihre Familie über die Tätigkeit zu informieren oder ihren illegalen Aufenthalt in Deutschland zu melden. Auch die Hilflosigkeit von Opfern, die deutsche Sprache nicht zu beherrschen, haben sich viele Zuhälter zunutze gemacht.
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