London. Sind es Stunden, Tage oder Wochen? Über die Frage, wie lange Boris Johnson noch in der Downing Street ausharren kann, wird am Mittwoch in Westminster eifrig spekuliert. Dass der Premier bald gehen muss, daran zweifelt kaum jemand. Kollegen, Kommentatoren und Politikexperten sind sich einig, dass sich Johnsons Amtszeit nach knapp drei Jahren ihrem Ende nähert – und zwar schnell. „He’s toast“, hört man von unterschiedlichsten Seiten. „Er ist erledigt.“
Der Doppelschlag am Vorabend – als Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, beides wichtige und einflussreiche Männer in Johnsons Kabinett, frustriert das Handtuch schmissen, wirkte das wie ein Dammbruch: Seither sind über zwei Dutzend Staatsminister und politische Berater zurückgetreten, zudem haben sich Fraktionsmitglieder auf Twitter gemeldet, um dem Premierminister ihr Misstrauen auszusprechen.
Am Mittwoch hält Sajid Javid eine vernichtende Rücktrittsrede. „Das Problem beginnt ganz oben“, sagt er. Er beschuldigt die Regierung, „Wahrheit und Integrität“ vermissen zu lassen. „Irgendwann müssen wir alle zur Einsicht kommen, dass es reicht“, sagt er. „Ich glaube, dieser Zeitpunkt ist jetzt.“
Kaum Begeisterung
Boris Johnson reagiert, wie man es von ihm gewöhnt ist. Sofort besetzt er die vakanten Posten, ernennt Nadhim Zahawi zum Finanzminister und Steve Barclay zum Gesundheitsminister. Weitermachen, als sei nichts geschehen. So hält er es auch bei der Fragestunde im Unterhaus. Johnson versucht, seine kämpferische Seite zu zeigen. „Es ist meine Pflicht, das Land durch schwierige Zeiten zu führen. Und das werde ich tun“, sagt er. Aber damit löst er kaum Begeisterung aus. „Glaubt der Premierminister, dass es Umstände gibt, unter denen er zurücktreten sollte?“, fragt ein Abgeordneter spitz – es ist einer von Johnsons Parteikollegen. Eine halbe Stunde später gibt der nächste Staatsminister seinen Rücktritt bekannt, die Welle der „resignations“ rollt weiter.
Unmittelbarer Auslöser der Regierungskrise ist ein weiterer Skandal, der den Premier in die Ecke gedrängt hat: Johnson hatte einen Tory-Abgeordneten befördert, obwohl er wusste, dass diesem sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Erst hatte Johnson alles abgestritten, musste dann aber zugeben, einen Fehler gemacht zu haben.
Aber dies ist nur der jüngste Skandal, der die politische Energie in Westminster in den vergangenen Monaten aufgesogen hat. Insbesondere der Partygate-Skandal, der sich seit Dezember hinzieht, hat dem Ansehen des Premierministers geschadet. Seine Fraktion ist zunehmend zu der Einsicht gekommen, dass Johnson sein Image als Skandal- und Lügenpremier nicht mehr loswird. Ende Juni folgten zwei bittere Wahlniederlagen – ein Hinweis darauf, dass Johnson wie eine Eisenkugel am Fuß seiner Partei hängt.
In einer Abstimmung Anfang Juni haben 41 Prozent seiner Fraktion Johnson das Misstrauen ausgesprochen. Seit der Demission von Sunak und Javid am Dienstag fallen die Unterstützer nun massenweise von ihm ab. Eine neue Umfrage von Anfang dieser Woche zeigt auch, dass die Bevölkerung genug hat: Fast 70 Prozent der Briten wollen, dass Johnson als Premierminister abtritt.
Er selbst sieht das anders. Jeder Gedanke an einen Rücktritt scheint ihm fernzuliegen. „Sie werden einen Flammenwerfer brauchen, um mich hier rauszubekommen“, soll Johnson noch im Juni über seine Kritiker gesagt haben. Dass er sich im Regierungssitz so festkrallt, liegt auch an seinem überbordenden Selbstbewusstsein: Er sei fest überzeugt, dass er für diesen Posten gemacht ist, sagt seine Biografin Sonia Purnell, die ihn seit 30 Jahren kennt.
Vernichtendes Urteil
Ihr Urteil ist vernichtend: Während das Land mit Krisen kämpft, vom überlasteten Gesundheitssystem bis hin zu den Lebenshaltungskosten, sei der Premier „99,9 Prozent der Zeit damit beschäftigt, Strategien auszuarbeiten, wie er Premierminister bleiben kann“.
Das ist ihm bislang immer gelungen. Diesmal könnte es anders sein. Nicht nur die Flut der Rücktritte erweckt den Anschein, dass sein Ende naht. Medien berichten zudem, dass im Hintergrund die Fäden gezogen werden, um Johnson gegen seinen Willen aus dem Amt zu drängen.
Eine Möglichkeit wäre eine zweite Vertrauensabstimmung. Nächste Woche finden die Wahlen fürs 1922-Hinterbänkler-Komitee statt – den einflussreichen Ausschuss, der die parteiinternen Vorgänge regelt. Wenn Johnson-kritische Kandidaten gewinnen sollten, könnten sie die Regeln zu Vertrauensabstimmungen so ändern, dass bald wieder ein Misstrauensvotum gegen den Premier möglich ist. Nach den derzeitigen Regeln darf eine solche Abstimmung nur ein Mal pro Jahr abgehalten werden. Da ihm seine Fraktion erst Anfang Juni das Vertrauen ausgesprochen hat, würde Johnson also eigentlich bis zum nächsten Sommer fest im Sattel sitzen. Eine Regeländerung aber würde es seinen Kritikern erlauben, den Premier doch noch auf diesem Weg loszuwerden – und diesmal würde mit Sicherheit eine Mehrheit der Tory-Abgeordneten gegen ihn stimmen.
Eine andere Option ist, dass ihm die Hinterbänkler ein Ultimatum stellen: Sollte eine Mehrheit der Fraktion Misstrauensbriefe einreichen, hätten sie ein handfestes Druckmittel, um Johnson den Rücktritt nahezulegen.
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