Berlin. Die Union schlägt Alarm: „Die Ampel muss jetzt ein Sofortprogramm für die Wirtschaft auflegen“, forderte CSU-Chef Markus Söder in der „Bild am Sonntag“. Deutschland sei „wieder der kranke Mann Europas“, warnte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann kürzlich. CDU-Chef Friedrich Merz fürchtet eine „Deindustrialisierung“. Wie schlimm steht es um die deutsche Wirtschaft?
Verhaltenes Wachstum
Die Weltwirtschaft wächst, Deutschland aber ist Schlusslicht unter den großen Industrienationen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass die deutsche Wirtschaft 2023 um 0,3 Prozent schrumpft, während für alle anderen Industrienationen der G7 Wachstum erwartet wird und die gesamte Weltwirtschaft um 3,0 Prozent steigen soll. Besserung erwartet der IWF 2024 – dann soll die deutsche Wirtschaft wieder um 1,3 Prozent wachsen.
Gefahren für die Industrie
Die Industrie trägt rund 30 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und beschäftigt 7,5 Millionen Mitarbeiter – 100 000 mehr als vor zehn Jahren. Seit Corona und dem Ukraine-Krieg leiden die exportorientierten Firmen aber verstärkt unter der schwächeren Nachfrage und Entwicklung der Weltwirtschaft, gestörten Lieferketten und Materialmangel. Dennoch arbeite die deutsche Industrie effektiv, meint Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): „Weniger Menschen produzieren mehr Güter.“
Eine Deindustrialisierung sei aber ein „reales Risiko“, sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher dieser Redaktion. Ursache sei das „Verschlafen der ökologischen, wirtschaftlichen und digitalen Transformation in den vergangenen 15 Jahren“. Dass deutsche Unternehmen im globalen Wettbewerb um neue Technologien und Marktanteile ins Hintertreffen geraten wären, sei Folge der „zu geringen öffentlichen und privaten Investitionen in neue Technologien, Produkte und Prozesse“.
Hohe Energiekosten
Die in Deutschland schon immer vergleichsweise hohen Energiekosten haben sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs extrem gesteigert. Hauptgrund ist die zuvor immense Abhängigkeit von russischem Gas, das nun für deutlich höhere Bezugskosten ersetzt werden musste. Dieses Problem will die Regierung mit dem beschleunigten Ausbau Erneuerbarer Energien in den nächsten Jahren auflösen.
Hohe Inflation
Die Inflation ist im Juli zwar leicht gesunken, bleibt jedoch mit 6,2 Prozent hoch. Der Preisanstieg belastet die Wirtschaft doppelt, da sie auch die Kaufkraft der Verbraucher schmälert. Viele konsumieren weniger und schwächen damit die heimische Wirtschaft, für die der private Konsum eine wichtige Stütze ist. Damit es hier zu einer Erholung kommt, müsste die Inflation sinken.
Robuster Arbeitsmarkt
Der Arbeitsmarkt gilt als robust. Zwar kletterte die Zahl der Arbeitslosen im Juli auf 2,617 Millionen, was einer Quote von 5,7 Prozent entspricht. Zugleich können Tausende Stellen nicht besetzt werden. In fast allen Branchen herrscht Fachkräftemangel. Ein strukturelles Problem, da genügend Nachwuchs fehlt. Die Regierung will deswegen mehr Arbeitskräfte aus anderen Ländern nach Deutschland holen.
Geringe Ausland-Investitionen
In Deutschland haben Investoren 2022 so viel Geld abgezogen wie noch nie. Deutsche Firmen investierten rund 135 Milliarden Euro im Ausland. Gleichzeitig investierten ausländische Firmen nur 10,5 Milliarden hierzulande. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) nennt diese Schieflage „alarmierend“ und sieht darin „im schlimmsten Fall den Beginn der Deindustrialisierung“. Grund: Die USA und China buhlen mit massiven Förderprogrammen auch um deutsche Unternehmen. Firmen verlagern Teile ihre Produktion ins Ausland.
Mehr Insolvenzen
Die Zahl der Firmenpleiten ist im ersten Halbjahr deutlich um 16,2 Prozent auf 8400 gestiegen. Die Creditreform sieht in der Entwicklung jedoch keine neue Insolvenzwelle, sondern eher eine „Normalisierung“ nach den geringen Insolvenzen während der Corona-Pandemie durch die Staatshilfen. So meldeten im ersten Halbjahr 2019 insgesamt 9690 Unternehmen Insolvenz an, 2018 sogar 9940.
Regierung will gegensteuern
„Wir brauchen einen Offensivplan für Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit“, sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai dieser Redaktion. „Nicht kurzfristige Konjunkturprogramme sind jetzt gefragt, sondern ein strategisches Konzept, das Bürokratieabbau, niedrige Steuern und eine Steigerung von privaten Investitionen beinhaltet“, fügte Djir-Sarai hinzu und verwies auf Vorschläge von Finanzminister Christian Lindner. Der FDP-Chef will die Wirtschaft mit einem Steuerpaket um jährlich rund sechs Milliarden Euro entlasten.
Die Koalitionspartner fordern weitere Investitionen, sind sich aber uneinig. Die Parteichefinnen von Grünen und SPD, Ricarda Lang und Saskia Esken, wollen den Strompreis für Unternehmen durch einen staatlichen Eingriff temporär senken. Die FDP lehnt einen Industriestrompreis dagegen ab.
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