Energie I - Studie sagt problematische Stromversorgung für Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz voraus

Experten fürchten Engpass

Von 
Peter Reinhardt
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Neue Stromtrassen von Nord- nach Süddeutschland reichen Wissenschaftlern zu Folge für Energiesicherheit nicht aus. Das Bild zeigt Strommasten bei Mannheim. © Keiper

Stuttgart. Der Januar 2017 ist den Betreibern der deutschen Stromnetze in ganz schlechter Erinnerung. Stundenweise war die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet. Den Engpass im kalten Wintermonat hatten die Versorger erst nicht richtig auf dem Schirm, dann erwiesen sich die eingeleiteten Gegenmaßnahmen als untauglich zur Wiederherstellung der Netzstabilität.

„Ähnliche Situationen können im realen Betrieb für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden“, heißt es in einer Studie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Auftrag von Baden-Württembergs Energie- und Umweltminister Franz Untersteller (Grüne). Die Experten erwarten sogar das Gegenteil: „Die Risiken für besonders kritische Zustände steigen.“ Vor allem der Süden Deutschlands sei in den nächsten Jahren auf Stromimporte aus dem Ausland angewiesen.

Wind und Sonne reichen kaum

Die Experten haben die Folgen der deutschen Energiewende berechnet. Allein in Baden-Württemberg zeichnen sich tiefgreifende Einschnitte ab: Wenn Ende des Jahres das Atomkraftwerk Philippsburg 2 und 2022 Neckarwestheim 2 endgültig abgeschaltet werden, entfällt rund ein Viertel der Stromerzeugung. Auch in Bayern gehen die letzten Atommeiler in den nächsten drei Jahren vom Netz.

Längst ist klar, dass trotz des Wachstums der erneuerbaren Energien der Strom aus Wind und Sonne diese Lücke nicht schließen kann. Die Engpässe in Süddeutschland, zu dem die Experten auch die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz rechnen, sollen die drei geplanten Stromautobahnen aus dem Norden der Republik schließen. Schon heute ist Süddeutschland vom windreichen Norden abhängig.

Leistung aus dem Ausland

Nach den Berechnungen der DLR-Experten wird bereits in diesem Jahr „zusätzlich Leistung aus dem benachbarten Ausland zur sicheren Nachfragedeckung benötigt“. 2023 seien „in jedem Fall Importe aus dem Ausland zur sicheren Vermeidung eines Bilanzdefizits notwendig“. Wenn die Pläne für einen beschleunigten Kohleausstieg realisiert werden, brauche Süddeutschland die gigantische Leistung von 16 Gigawatt aus dem Ausland. Um ein Fünftel müsse der Stromimport steigen. Berücksichtige man die Kapazitäten der Kohlekraftwerke in Polen und der Atomkraftwerke in Frankreich, sei aber für jedes Szenario im europäischen Verbund genügend Strommenge zur Verfügung.

Die Frage, ob eine Energiewende mit der Abschaltung von Kohlekraftwerken in Deutschland Sinn macht, wenn man dafür auf polnischen Kohlestrom zurückgreifen muss, stellen die DLR-Leute nicht. Untersteller beantwortet sie ausweichend: „Nur auf Polen und Frankreich zu blicken, wird der komplexen Situation des europäischen Strommarktes nicht gerecht.“ In die Betrachtung müssten auch Norwegen, Schweden und Italien einbezogen werden. Ohnehin hätten alle EU-Staaten beschlossen, die Treibhausgase zu reduzieren. Der Grünen-Politiker räumt ein, dass sich „heute noch nicht eindeutig beantworten lässt, wie genau der Strommix in den Nachbarländern aussieht“. Für die CDU-Landtagsfraktion formuliert ihr Energieexperte Paul Nemeth die Probleme der Energiewende klarer: „Wir stehen vor einer Übergangsphase, die schwierig ist.“ Für den „Übergang muss man Kompromisse machen“. Deshalb will er nicht ausschließen, dass für den Umstieg auf erneuerbare Energien auch Kohlestrom importiert werden muss.

Die Wirtschaft nimmt die Politik bei der Stromversorgung in die Pflicht. „Kraftwerke dürfen nur abgeschaltet werden, wenn nachgewiesen ist, dass die Versorgungssicherheit nicht leidet“, betont Geschäftsführer Wolfgang Wolf vom Landesverband der Industrie. Die Lage müsse überprüft werden. Wolf gibt zu bedenken, dass „möglicherweise der Stromzufluss über Importe nicht immer funktioniert, wenn zum Beispiel in den Bezugsländern wetterbedingt Versorgungsengpässe auftreten“. Auch Wolfgang Grenke, der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags, sieht „einige Unwägbarkeiten“. Entscheidend für das Gelingen der Energiewende sei der Netzausbau. Seiner Ansicht nach ist unklar, wie sich der Bedarf durch die wachsende Zahl von E-Autos und durch die Digitalisierung entwickelt. Bei der Lösung der Probleme setzt Grenke allerdings klar auf eine europäische Lösung: „Kirchturmdenken ist hier eher hinderlich.“

Ölkraftwerk geplant

Diesen Optimismus teilt der Bundesverband der Elektrizitäts- und Wasserwirtschaft (BDEW) nicht. „Die Nachbarn alleine werden es nicht richten“, warnt Präsident Stefan Kapferer. Überall in Europa sollen Kohlekraftwerke stillgelegt werden. Der BDEW-Chef fordert deshalb den Bau neuer Gaskraftwerke, da mehr Windräder und Solarparks in winterlichen Dunkelflauten die Stromversorgung nicht sichern könnten. Untersteller setzt dagegen auf einen schnelleren Ausbau der Übertragungsnetze von Nord- nach Süddeutschland. „Außerdem müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien im Land weiter vorantreiben“, betont der Grüne. Dieser Kurs scheint der Energie Baden-Württemberg nicht sicher genug. Der Karlsruher Konzern will am Standort Marbach ein Ölkraftwerk bauen. Während alle Welt beim Auto vom Ende des Verbrennungsmotors redet, will ausgerechnet der fast zur Hälfte dem Land gehörende Konzern zurück zum Öl.

Wachsende Verflechtung

Je mehr Windräder und Solarparks gebaut werden, desto stärker schwankt das Angebot im Strommarkt. Schon heute gibt es Tage, in denen Deutschland Stromüberproduktion hat und Strom gegen Gebühren ins Ausland ableiten muss. Umgekehrt wird aber auch Strom in erheblichem Umfang importiert. Aus Frankreich waren es 2018 fast elf Terawattstunden, aus Tschechien fast fünf.

In Baden-Württemberg wächst der Importbedarf. Der industriestarke Südwesten hat zum Beispiel 2017 gut 74 Terawattstunden Strom verbraucht, aber in den einheimischen Anlagen nur 62 Terawattstunden erzeugt. Zehn Jahre vorher lag die Bruttostromerzeugung noch bei 72,4 Terawattstunden. Ein Terawatt sind eine Billion Watt. Ein Fernsehgerät hat etwa eine Leistung von 100 Watt.

Das Defizit zwischen Erzeugung und Verbrauch besteht nach Angaben von Energieminister Franz Untersteller seit 2000. pre

Korrespondent Landespolitischer Korrespondent in Stuttgart

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