Brüssel. Frankreich hat am Sonntag gewählt. Emmanuel Macron wird als nächster Präsident der Französischen Republik in den Élysée-Palast einziehen. Das Ergebnis fiel deutlicher aus, als viele erwartet hatten. Es ist ein deutliches Ergebnis in vielerlei Hinsicht: Das französische Volk hat für einen Neustart votiert - sowohl für Frankreich als auch für Europa. Denn kein anderer Kandidat hat so für Europa geworben und sich zur Europäischen Union bekannt wie Emmanuel Macron. Die Wahl dieses überzeugten Europäers zum französischen Präsidenten erfolgte fast pünktlich zum Europatag am 9. Mai.
Mit dem Europatag gedenkt die Europäische Union alljährlich der Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950. Sein Plan war geradezu revolutionär: die Zusammenführung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion und die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. Kohle und Stahl - zwei Produkte, die jahrhundertelang ein Zankapfel zwischen beiden Ländern und die wichtigsten Komponenten zur Vorbereitung der mörderischen Kriege zwischen den einstigen Erbfeinden waren, bildeten nun die Grundlage für ein Friedensprojekt.
Der Schuman-Plan bereitete den Weg für die europäische Einigung. Nicht einmal ein Jahr später mündete er in die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Diese EGKS war das Vorbild für die Europäischen Gemeinschaften, die 1957 mit den Römischen Verträgen ins Leben gerufen wurden. Die Römischen Verträge wurden zur Geburtsstunde der Europäischen Union.
Bilanz als Auftrag
Heute, 60 Jahre nach den Römischen Verträgen, ist der Traum eines geeinten Europas Realität geworden. Europa ist der Garant für Frieden, Freiheit und Wohlstand und umfasst nicht nur die Völker, deren Regierungen diese Verträge einst unterzeichneten.
Hinter dieser Bilanz zum 60-jährigen Bestehen verbirgt sich jedoch kein abschließendes Urteil, sondern ein Auftrag. Es gilt, das vereinte Europa als eine der größten kulturellen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte nicht nur zu bewahren, sondern seine Erfolgsgeschichte weiterzuschreiben. Die Geschichte des vereinten Europas schrieben immer die Mutigen, und Europa braucht heute mehr Mut. Es ist also an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Eine andere Gemeinschaft
Nicht nur die französische Präsidentschaftswahl zeigt es: Die Menschen wollen Europa, aber sie wollen vor allem ein anderes, ein besseres Europa. Im Rahmen der gesamteuropäischen Jugendstudie "Generation what" wurden fast eine Million junge Menschen zwischen 18 und 34 Jahren aus 35 Ländern Europas befragt. Während über die Hälfte der Befragten wenig bis kein Vertrauen in die Institutionen der Europäischen Union hat, fühlen sich gleichzeitig über 70 Prozent der Befragten als Europäer und Europäerinen und über zwei Drittel dieser jungen Leute aus den EU-Staaten plädieren dafür, dass ihr Land Mitglied der Europäischen Union bleibt.
Ja, sie wollen Europa, aber anders. Und genau das fordern sie ein: Sie wollen ein demokratisches Europa, in dem die Demokratie lebt, in dem die Freizügigkeit der Menschen und die Grenzenlosigkeit bewahrt bleiben, ein Europa der Presse- und Meinungsfreiheit, ein Europa, das sozialer und gerechter ist.
Kampf gegen Hass
Oder um es zusammenzufassen: Mehr Europa, damit der Frieden, in dem wir seit 70 Jahren zusammenleben können, verteidigt wird gegen die Menschen, die nur eins im Sinn haben, nämlich Hass gegen Andersdenkende und Spaltung.
Enttäuschungen und Erwartungen hängen hier ganz eng zusammen. Es ist die Aufgabe aller politisch Verantwortlichen, diese Erwartungen mit neuem Leben und einer neuen Vision zu füllen - für ein demokratisches und soziales Europa für das 21. Jahrhundert.
Evelyne Gebhardt
Evelyne Gebhardt (Bild, geb. 1954 in Montreuil-sous-Bois) ist seit 1994 Mitglied des Europaparlaments und dessen Vize-Präsidentin.
Die SPD-Politikerin studierte in Paris, Tübingen und Stuttgart Sprachwissenschaften, Politik und Volkswirtschaftslehre.
Sie wohnt in Mulfingen im Hohenlohekreis, ihr Wahlkreis ist Künzelsau.
Gebhardts Schwerpunktthemen sind Bioethik, Verbraucherschutz und Bürgerrechte.
Sie ist Koordinatorin der sozialdemokratischen Fraktion im Ausschuss für Binnenmarkt und seit 2013 Landesvorsitzende der Europa-Union Baden-Württemberg. malo
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