Berlin. Wie weiter in Afghanistan? Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) spricht im Interview über Pläne zur Rettung der Ortskräfte und zur Entwicklungsarbeit.
Herr Minister, der Westen hat in Afghanistan versagt. Schämen Sie sich für das, was gerade geschieht?
Gerd Müller: Die Bilder sind schockierend. Die Entwicklung hat alle überrascht. Wir arbeiten unter Höchsteinsatz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um in dieser dramatischen Lage unsere afghanischen Ortskräfte zu evakuieren. Die Lage am Flughafen ist chaotisch, wir wissen deshalb nicht, wie lange diese Möglichkeit noch gegeben ist. Die Bundeswehrsoldaten leisten Großartiges in einer höchst riskanten Rettungsaktion und verdienen - wie die amerikanischen Soldaten - unseren höchsten Respekt und Dank.
Wen will die Bundesregierung jetzt retten?
Müller: Deutsche Staatsbürger in Afghanistan, afghanische Ortskräfte und deren Familien, die an der Seite der Bundeswehr und der Entwicklungsorganisationen viel getan haben, um die Lebensbedingungen entscheidend zu verbessern. Allein aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit haben nach den innerhalb der Bundesregierung festgelegten Kriterien potenziell 1800 Ortskräfte und deren Familien Anspruch auf Ausreise. Wir machen uns große Sorgen um die Sicherheitslage und das Vorgehen der Taliban, insbesondere gegen Frauen, Menschenrechtler, Journalisten und andere, die sich für ein modernes Afghanistan eingesetzt haben.
Soll man mit den Taliban diplomatische Beziehungen halten?
Müller: Es laufen Gespräche in Doha. Entscheidend ist die Sicherheit aller Menschen in Afghanistan, die Einhaltung der Menschenrechte und die Rechte der Frauen. Daran werden wir die Taliban messen. Zudem ist eine belastbare Zusage zur sicheren Ausreise aller Ortskräfte, die das wollen, wichtig.
Bleibt es richtig, die Entwicklungszusammenarbeit auszusetzen?
Müller: Die staatliche Entwicklungszusammenarbeit ist an klare Voraussetzungen geknüpft: Sicherheit der Mitarbeiter, Achtung der Menschenrechte. Diese Voraussetzungen sind derzeit nicht gegeben. Aber viele NGOs sind vor Ort und setzen humanitäre Projekte in eigener Verantwortung um, etwa zur Ernährungssicherung. Wir sind mit ihnen intensiv im Austausch, wie die humanitäre Hilfe der afghanischen Bevölkerung aufrechterhalten werden kann. Die Entwicklungszusammenarbeit hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viel bewirkt. So können 80 Prozent der Mädchen und Frauen zur Schule gehen, ihre Berufe ausüben. Das war vor 20 Jahren nicht möglich. Die Pro-Kopf-Einkommen haben sich vervierfacht. Und vieles mehr. Es ist nicht alles schlecht, was jetzt in Frage gestellt wird. Und wir müssen auch weiterhin an das Schicksal und das Leid der Menschen vor Ort denken.
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