Berlin. Neue Eiszeit zwischen Berlin und Ankara: Nach der Absage der Wahlkampfauftritte des türkischen Justizministers Behir Bozdag im badischen Gaggenau und des türkischen Wirtschaftsministers Nihat Zeybekci am Wochenende in Köln durch die jeweiligen Stadtverwaltungen haben die deutsch-türkischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt erreicht.
Bundespräsident Joachim Gauck zeigte sich enttäuscht über die Entwicklung in der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan. "Als freiheitlich gesonnener Demokrat und Europäer ist mir die Entwicklung in der Türkei selbstverständlich suspekt", sagte er gestern. Er sehe da eine "abschüssige Ebene, bei der wir nicht wissen: Wo ist das Ende der Rechtsstaatseinschränkungen? Geht das so weiter?" Noch deutlicher wurde er in einem Interview mit dem "Spiegel". Darin nannte er die Inhaftierung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in der Türkei "inakzeptabel". Der Vorgang lasse einen fragen, "ob die Türkei überhaupt noch den Anspruch hat, eine Demokratie und ein Rechtsstaat zu sein". Zudem mache es einen "tief traurig, wenn man sieht, dass eine liberale Demokratie in dem Land bis auf Weiteres in immer weitere Ferne rückt und stattdessen ein autoritäres, religiös verbrämtes Führungssystem immer stärker Fuß fasst".
Maas in großer Sorge
Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) kritisierte in einem Brief an seinen türkischen Amtskollegen Bekir Bozdag das Vorgehen der türkischen Behörden im Fall Yücel. Er sei "in großer Sorge um die deutsch-türkische Freundschaft", schrieb er. Gleichzeitig warnte er vor einem "Abbau der Rechtsstaatlichkeit". Maas wollte sich eigentlich am Donnerstag mit Bozdag in Karlsruhe zu einem Gespräch treffen, doch sein Amtskollege sagt aus Verärgerung über die Absage seines Auftritts in Gaggenau das Treffen kurzfristig ab. Maas rief im Gegenzug die türkische Regierung dazu auf, ihren Umgang mit Grundrechten und die Verhaftungen zu überdenken. "Wenn sich die Türkei nicht an die europäischen Grundwerte hält, wird die Annäherung an die Europäische Union immer schwieriger bis unmöglich." Gleichwohl bemühte sich die Bundesregierung gestern, den Konflikt nicht weiter anzuheizen, wies aber die Kritik der türkischen Regierung zurück. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte in Tunis, bei der Absage des Auftritts des türkischen Justizministers habe es sich um eine kommunale Angelegenheit gehandelt. Grundsätzlich werde in Deutschland Meinungsfreiheit praktiziert. Deutschland habe ein föderales System, da würden mitunter Kommunen über die Sicherheit einer Veranstaltung entscheiden.
Auch das Innenministerium verwies darauf, dass der Bund bei Fragen des Versammlungsrechts "keinerlei Zuständigkeiten" habe. Das Auswärtige Amt appellierte an alle, "die ein Interesse an guten und gedeihlichen Beziehungen haben", kein weiteres Öl ins Feuer zu gießen.
Nach Angaben der Bundesregierung gibt es keine offizielle Anfrage aus der Türkei für einen Wahlkampfauftritt von Staatspräsident Erdogan in Deutschland. Der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci kündigte an, an seinem Auftritt am Wochenende festhalten zu wollen. Die Veranstaltung, die am Sonntagabend in Frechen bei Köln stattfinden sollte, wurde ebenfalls abgesagt.
Wichtige Wähler
Die in Deutschland lebenden Türken spielen beim Referendum über eine Verfassungsreform eine wichtige Rolle.
Von den 58,2 Millionen Wahlberechtigten leben hierzulande rund 1,4 Millionen.
Bei der Parlamentswahl im November 2015 lag der Stimmenanteil für Erdogans AKP in Deutschland rund zehn Prozentpunkte höher als das Gesamtergebnis.
Bei der Präsidentenwahl 2014 holte Erdogan in Deutschland sogar knapp 17 Punkte mehr. dpa
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