Missbrauch - Expertin fordert Reform des Sexualstrafrechts und des sogenannten Vergewaltigungsparagrafen / Mehr Prävention auch in Kinder- und Jugendarbeit verlangt

Eine Dimension, die fassungslos macht

Von 
Monika Raab
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Können sich Frauen in Innenstädten noch frei bewegen? Die Vorfälle von Köln haben Diskussionen über die Solidarität der Gesellschaft mit Frauen ausgelöst.

© dpa/Privat

Was in Köln passiert ist, ist eine neue Dimension der sexuellen Gewalt: Von Männern eingekreist zu werden und dabei in der Öffentlichkeit sexueller Belästigung ausgesetzt zu sein. Diese Schilderungen von der Bedrohung durch eine Masse von Männern macht Angst. Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren: Sexuelle Gewalt ist ein bekanntes Problem.

Denken wir etwa an das Münchner Oktoberfest. Dort kommt es immer wieder zu sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung. Auf großen Festen, bei denen leider viel Alkohol im Spiel ist, passiert das. Es ist bekannt, wird aber nicht an die große Glocke gehängt, fast schon als normal hingenommen.

Auch wenn sich durch diese sexuellen Übergriffe im öffentlichen Raum Ängste vor dem Fremden auftun: Statistisch gesehen finden die meisten sexuellen Übergriffe auf Frauen im vertrauten Umfeld statt. Aus meiner Beratungspraxis kann ich sagen: Nachdem ein gewisses Vertrauen aufgebaut ist, was etwa beim Partner normalerweise selbstverständlich ist, wird dieses Vertrauen benutzt, um sexuelle Übergriffe auszuüben. Oft fangen Übergriffe vergleichsweise harmlos an.

Bei Kindern zum Beispiel wird erstmal ausgetestet, ob das Mädchen oder der Junge sich überhaupt traut, sich im Notfall an jemanden zu wenden. Die weiteren Übergriffe werden auf die Reaktionen des Kindes angepasst und mit der Zeit wird die Gewalt immer massiver.

Ähnliches gilt zum Teil für Frauen, die etwa am Arbeitsplatz belästigt werden. Es läuft nicht identisch ab, aber auch hier wird erst Vertrauen oder Kumpelhaftigkeit aufgebaut. Die Frau soll denken "Ach, das ist ja mein Kollege. Vielleicht habe ich da etwas missverstanden."

Die Angst vor der Anzeige

An Köln hat mich erschüttert, dass niemand richtig eingegriffen hat - wie konnte so etwas in der Öffentlichkeit passieren? Waren die Frauen durch die Gruppen so hermetisch abgeriegelt, dass man nichts sehen konnte? Vielleicht war die Polizei überfordert, ich kann das zwar von außen nicht beurteilen. Aber nach dem Lesen von Zeugenberichten hatte ich das Gefühl, dass es möglich gewesen wäre, einzugreifen.

Interessant ist auch, dass die Anzeigen in den Tagen nach Silvester erst nach und nach eintrudelten. Dass Opfer nicht sofort Anzeige erstatten, ist typisch. Es liegt zum einen daran, dass sich viele Frauen nach sexuellen Übergriffen schämen oder schlichtweg nichts mehr mit der Sache zu tun haben wollen. Zum anderen wollen sich viele nicht der Reaktion der Polizei aussetzen. Die Geschädigte geht ja nicht zu den Beamten, sagt "ich bin vergewaltigt worden" und dann nimmt alles seinen juristischen Gang. Die Frauen sind immer wieder Ambivalenzen ausgesetzt. Sie müssen sich immer wieder fragen: "Werde ich von den Polizisten überhaupt ernst genommen?" Oft werden Täter freigesprochen, weil angeblich keine Gewalt ausgeübt wurde. Das wissen die Frauen und es hemmt sie, Anzeige zu erstatten.

Frauen, die vergewaltigt wurden, erfahren wenig Solidarität von der Gesellschaft. Vor allem wenn es Dimensionen annimmt, die viele fassungslos machen. Dann wird die Argumentation umgedreht und gesagt: "Vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht hat sie da was überinterpretiert." Wenn ich mir vorstelle, ich sage: "Da sind Dutzende Männer gewesen, die mich sexuell belästigt haben." Nimmt mir das überhaupt jemand ab?

In Köln lief es anders: Es gab eine Art Kettenreaktion. Die Frauen sahen, dass einige die Anzeige gewagt haben, und trauten sich ebenfalls. Bisher wurden, soweit ich das mitbekommen habe, die Aussagen der Frauen nicht angezweifelt. Das ist wie gesagt nicht unbedingt üblich.

Ich befürchte, dass das aber noch keine Trendwende dahingehende bedeutet, dass Frauen in Zukunft häufiger geglaubt wird. In Köln hat es aus meiner Sicht eine Rolle gespielt, dass Nordafrikaner die Täter gewesen sein sollen - vielleicht Asylbewerber. Um auf das erwähnte Oktoberfest zurückzukommen: Stellen Sie sich vor, es würde heißen: Auf der Wies'n sind Frauen von hunderten bayerischen/deutschen Männern eingekreist worden, um sie sexuell zu belästigen und auszurauben. Vermutlich wäre das den Frauen weniger geglaubt worden.

So schlimm diese Vorfälle sind, meine Hoffnung ist, dass die Welle der Aufmerksamkeit nicht wieder abebbt, sondern dass sich etwas verändert. Sexuelle Gewalt ist nichts Konjunkturelles. Es passiert dauernd, und deshalb sollte das Thema auch dauerhaft diskutiert und ernst genommen werden.

Maas muss aktiv werden

Justizminister Heiko Mass ist damit angetreten, das Sexualstrafrecht im Sinne der Betroffenen zu reformieren. Das liegt momentan auf Eis. Ich hoffe, dass Herr Mass jetzt wieder aktiver wird: Wichtig ist das etwa beim sogenannten Vergewaltigungsparagrafen. Von Vergewaltigung spricht der Gesetzgeber dann, wenn der Täter die massive Gegenwehr einer Frau überwinden muss. Wenn ein Mann aber ausnutzt, dass die Frau zu verängstigt ist, um "nein" zu sagen - zum Beispiel, weil sie weiß, dass ihr Mann schon mal zuschlägt -, sollte das aus unserer Sicht auch als Vergewaltigung gewertet werden. Einvernehmliche Sexualität muss ein aktives "Ja" beinhalten.

Außerdem sollte an den Schulen sowie in der Kinder- und Jugendarbeit mehr für die Prävention getan werden. Ich würde mir wünschen, dass sich hier in Zukunft auch mehr Männer engagieren. In den Köpfen von jungen Menschen muss verankert werden, dass sexuelle Belästigung und Übergriffe ebenso wie Vergewaltigung gesellschaftlich nicht erwünscht sind.

Monika Raab und Wildwasser

  • Monika Raab ist seit 1998 Mitarbeiterin der Fach- und Beratungsstelle Wildwasser in Ludwigshafen mit bundesweiter Vernetzung.
  • Wildwasser ist ein Verein, der von sexueller Gewalt betroffene Frauen berät, Lehrer fortbildet und Vernetzungsarbeit leistet. Er wird durch Bund und Kommunen finanziert.
  • Der Verein und Notruf ist zu erreichen unter Tel. 0621/62 81 65, www.wildwasser-ludwigshafen.de

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