Aleppo. "Über uns fliegen mehr Kampfjets als Vögel. Der Tag des Jüngsten Gerichts ist angebrochen." So beschreibt ein Lehrer im belagerten Ost-Aleppo die Todesängste der 250 000 Zivilisten in der einst größten Metropole Syriens. Bewohner zählten mehr als 900 Luftangriffe an einem einzigen Tag. Seit Russland und das von ihm unterstützte Assad-Regime in der vergangenen Woche eine dreiwöchige Kampfpause beendeten, prasseln Bomben und Granaten auf Rebellenpositionen und zivile Ziele in nie dagewesener Intensität nieder. Laut UN leben im ganzen Land fast eine Million Menschen im Belagerungszustand.
Den Eingeschlossenen in Aleppo bleibt nach den Worten eines der Zivilschutzfreiwilligen der "Weißen Helme" nur noch die Hoffnung auf den Tod. In Ost-Aleppo, wo seit Juli keine Hilfslieferungen eintrafen, gehen die Notvorräte zur Neige. Das Aushungern, Assads bereits in anderen Rebellengebieten erfolgreich angewandte Strategie, hat begonnen.
Assad und Russlands Präsident Putin nutzen die Wahlturbulenzen in den USA, um in Syrien neue strategische Fakten zu schaffen, den Spielraum des künftigen US-Präsidenten Donald Trump einzuengen, wenn er im Januar die Macht übernimmt. Die Eroberung des von etwa 4000 Rebellen der "Jabhat Fatah al Sham" (ehemals Al-Kaida Ableger Al-Nusra) kontrollierten Stadtteils ist zentrales Ziel.
Regime setzt auf Zerstörung
Da sich weder die Rebellen ergeben, noch die Zivilbevölkerung Russlands Angebot eines humanitären Korridors annehmen will, setzt Assad auf die volle Zerstörung dieses Stadtteils. Zugleich versucht Putin, sich von solchen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu distanzieren und betont, sein Kriegsgerät würde, wie in den vergangenen drei Wochen, Ost-Aleppo schonen. Denn die Beteiligung an Massenmorden unter der hilflosen Zivilbevölkerung Ost-Aleppos würde jede Aussicht auf eine gemeinsame Suche mit den USA nach einem Ende des Blutvergießens völlig zunichte machen. Umso massiver schlagen russische Bomben und Marschflugkörper, erstmals von dem bei Tartus stationierten Flugzeugträger Admiral Kuznetsov abgefeuert, in Idlib und Homs ein, in Regionen, die von der eben erneut von den USA als Terror-Organisation eingestuften Nusra kontrolliert werden.
Trumps Ankündigung, er wolle dem Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) und andere radikale Islamistengruppen höchste Priorität einräumen und ihn mit Russland koordinieren, hat den Kremlherrn wohl in seiner Entschlossenheit bestärkt, den Widerstand der Rebellen endgültig zu brechen. Ein Jahr, nachdem Russland durch seine Militärintervention Assad vor dem Untergang gerettet hat, wächst durch die Wahl Trumps die Hoffnung des Diktators auf sein politisches Überleben wie kaum zuvor. Euphorisch nennt Assad den Neugewählten seinen "natürlichen Verbündeten", sollte Trump sein Versprechen wahr machen und sich im Syrienkrieg ausschließlich dem Kampf gegen Terroristen - worunter Assad alle seine Gegner versteht - widmen. Putins Syrienstrategie lässt so manche Fragen offen. Wochenlang hatte sich der Kreml im Dialog mit Washington um einen Waffenstillstand und einen anschließenden Kampf zur Beendigung des Krieges bemüht - ein Ziel, das Hardliner im Pentagon blockierten.
Putin ändert Kurs
Schließlich vollzog Putin Ende September eine Kehrtwende, die sein UN-Vertreter mit den Worten begründete: Angesichts von "Hunderten bewaffneten Gruppen" in Syrien sei es "fast unmöglich" Frieden zu erreichen. Geopolitisch gesehen aber laufen die Dinge voll in Putins Sinn. Hier ist das Ziel klar: Ende der "Pax Amerikana", Absicherung des einzigen Militärstützpunktes im Mittleren Osten, wo die USA in fast jedem Land Stützpunkte unterhalten; Aufbau Syriens zu einer säkularen Bastion gegen den auch Russland gefährdenden islamischen Extremismus. Für dieses Ziel starben durch russische Bomben laut der "Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte" bisher 10 000 Syrer, etwa 4000 davon Zivilisten.
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