Atomkraft - Überlebende des Unglücks vor fünf Jahren im Nordosten Japans misstrauen den Beteuerungen der Regierung und des Kraftwerksbetreibers Tepco / Doch die Hoffnung auf Rückkehr lebt weiter

Die Katastrophe nach der Katastrophe

Von 
Michael Stürzenhofecker
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Vor allem ältere aus Fukushima evakuierte Menschen wollen zurück in ihre Heimat. Aber die unsichtbare Gefahr lauert noch.

Der Staub von fünf Jahren liegt auf den Autos in Namie. Die Kleinstadt liegt heute zum großen Teil hinter Barrikaden, davor wachen Polizisten mit Atemschutzmasken, Kameras sollen vor Plünderungen schützen. Nur der heulende Wind ist in dem Küstenort zu hören, auf Absperrgittern blinken Warnlichter seit Jahren vor sich hin.

Im März 2011, als nach einem Seebeben ein Tsunami über den Küstenort hereinbrach und anschließend drei Reaktorkerne im zehn Kilometer entfernten Kernkraftwerk Daiichi schmolzen, wurde Namie zur Geisterstadt und viele ihrer Einwohner zu Heimatlosen.

Yoshiku Amano bricht in Tränen aus, wenn sie von ihren seltenen Fahrten zu ihrem ehemaligen Familiensitz in Namie erzählt. "Das ist nicht mehr mein Zuhause", sagt die 64-Jährige. An mehreren Checkpoints muss sie ihren Ausweis zeigen, um in ihr Haus durchgelassen zu werden. Dort haben sich inzwischen Kakerlaken und Mäuse breitgemacht, davor Wildschweine. Sie erkenne ihr Haus nicht wieder, obwohl in den vergangenen Jahren kaum etwas verändert wurde.

Seit der Evakuierung kurz nach dem Tsunami am 11. März 2011 lebt Amano in einer Übergangsunterkunft am Rand der Evakuierungszone. Auf wenigen Quadratmetern wohnt sie Tür an Tür mit anderen, meist älteren Menschen, die bei dem Unglück ihr Zuhause verloren. Mehr als 300 000 verließen nach dem Reaktorunglück ihre Häuser, fast 50 000 leben wie Amano bis heute in sogenannten Temporary Housing Complexes (Vorübergehenden Wohnsiedlungen).

Auch die ehemals 1500 Bewohner des Dorfes Katsurao mussten 2011 ihre Heimat verlassen. Sie fassten einen wahrscheinlich einmaligen Entschluss und zogen gemeinsam los. Heute leben nur noch gut 830 der Einwohner zusammen in Miharu etwas außerhalb der Sperrzone. Katsuraos Bürgermeister Masahide Matsumoto ließ dort ein Verwaltungszentrum errichten. 290 seiner Gemeindemitglieder leben in einer Übergangseinrichtung, der Rest verstreut in dem Ort.

Aufhebung der Evakuierung

Jetzt aber will der 79-Jährige wieder zurück. Im Oktober endet Matsumotos wahrscheinlich letzte Amtszeit, ab März hebt die japanische Regierung die Evakuierung für das Dorf auf. "Es gibt Familien, die seit mehr als 20 Generationen in Katsurao leben", sagt der Bürgermeister. Es sei seine Pflicht und vielleicht letzte Amtshandlung, die Menschen zurück in ihre Heimat zu bringen.

Die aber wollen oft gar nicht. Die Gemeinde ließ eine Umfrage durchführen. Nur 47 Prozent sprachen sich dafür aus, zurückzukehren. Es sind vor allem die Älteren, gibt Matsumo zu. Durchschnittlich 65 Jahre seien die Ja-Sager alt. Sie fürchten die möglichen Langzeitfolgen der Radioaktivität nicht und haben kaum Anschluss gefunden in ihrer neuen Heimat.

Durchschnittlich 30 Jahre waren diejenigen alt, die gegen eine Rückkehr stimmten. Viele von ihnen haben eine neue Arbeit und eine Schule für ihre Kinder gefunden, die sie nun nicht wieder aufgeben wollen. Und sie haben Angst um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder.

Wechselnde Strahlendosis

Nach dem Reaktorunfall wehte der Wind einen Großteil der radioaktiven Partikel aufs Meer. Dann drehte er und verheerte die Region. Die Strahlendosis variiert noch heute von Hügel zu Hügel, Straße zu Straße und teils von Mauer zu Mauer. Die Behörden evakuierten das Gebiet erst nach und nach. Zehntausende verließen die Region als "freiwillig Evakuierte". Bis heute trauen viele den Angaben der Regierung und des Kraftwerkbetreibers Tepco nicht.

Um die Region wieder bewohnbar zu machen, schrubben jeden Tag Tausende Arbeiter Wände, Mauern und Böden. Die Behörden lassen auf den Feldern die obere Erdschicht abbaggern und in Säcke packen, die sich immer weiter ausbreiten. Allein in Katsurao ist inzwischen die Hälfte der Fläche des Ortes damit belegt, für noch mindestens 30 Jahre.

Um voranzukommen, säubern die Arbeiter nur die ehemals bewohnten Orte und 20 Meter darum herum. Niemand kümmert sich um Wildtiere, die seit Jahren in dem Gebiet umherlaufen. Die Wälder, in denen die Bewohner Pilze sammelten, bleiben radioaktiv verseucht.

Viele der evakuierten Dörfer seien kaum wieder zum Leben zu erwecken, sagt Ana Mosneaga, die an der Universität der Vereinten Nationen in Tokio die Folgen des Unglücks für die Bevölkerung untersucht. Mancherorts würden mehr als die Hälfte der Häuser leerstehen. Es sei kaum anzunehmen, dass jemand das Risiko wage und in den Dörfern Geschäfte eröffne. Die Orte wären mit einem demografischen Wandel konfrontiert, der ohne Katastrophe erst in 30 Jahren eingesetzt hätte. Früher hätten die Menschen gefragt "Wann gehen wir zurück", jetzt sei die Frage: "Wohin kehren wir zurück?"

Angst vor der Radioaktivität

Die Säuberungsmaßnahmen haben einen großen Teil der radioaktiven Verschmutzung beseitigt, nicht aber die Verunsicherung. Die Evakuierten wissen nicht, ob sie in ihrer alten Heimat je wieder eine Arbeit finden, ein Geschäft gründen, Ackerbau oder Fischerei betreiben können. Sie fragen sich, wie gefährlich die inzwischen stark reduzierte Radioaktivität wirklich ist und ob sie die einzigen wären, die zurückkommen. Nicht nur der Ort ist kontaminiert, sondern auch der Name Fukushima.

Amano hat sich inzwischen dazu entschieden, nicht mehr in ihre alte Heimat, die Geisterstadt Namie, zurückzukehren. Sie bewarb sich bei der staatlichen Lotterie für die Evakuierten und gewann ein Haus in dem Ort, in dem ihr älterer Sohn lebt. Er arbeitet wie ihr zweiter Sohn bei dem immer noch größten Arbeitgeber der Region, dem Kernkraftwerk Daiichi. "Wegen des Geldes", wie Amano sagt. Ihr Zuhause jedenfalls sei dort, wo ihre Familie lebe.

Frauen basteln, Männer hadern mit Hilflosigkeit

Michael Stürzenhofecker

Nachdem sie ihre Heimat verloren hatten, verließ sie auch noch die Hoffnung. Haruru Watanabe kennt die Geschichten vieler aus den Übergangseinrichtungen rund um die Sperrzone in Fukushima, und sie handeln meist von Ungewissheit und Sorgen, was die Zukunft betrifft.

Seit drei Jahren fährt der Unternehmenspsychologe mindestens an einem Wochenende pro Monat in eine der Einrichtungen und hört zu. Der 61-Jährige ist einer von inzwischen tausenden Freiwilligen, die den Evakuierten regelmäßig Hilfe anbieten. Denn Untersuchungen in der Region haben gezeigt, dass inzwischen mehr Menschen an den meist psychisch bedingten Spätfolgen gestorben sind, als unmittelbar bei der Katastrophe zu Tode kamen. 14,6 Prozent der Evakuierten leiden gemäß einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie an psychischen Problemen, fünf Mal mehr als in der normalen Bevölkerung.

Zunächst auf drei Jahre angelegt

Die containerartigen Unterkünfte waren zunächst auf bis zu drei Jahre angelegt. Viele gehen inzwischen davon aus, dass sie noch Jahre existieren werden. In den einfachen Wohnungen, die im Steckbausystem errichtet wurden, leben zum allergrößten Teil ältere Menschen.

Jeden Morgen ist es die erste Aufgabe von Fishimi Shinshi, dem Leiter der Anwohnergemeinschaft in der Unterkunft in Yamakiya, Haken zu setzen. Shinshi und seine Mitarbeiter suchen alle Wohnungen auf, in denen Menschen leben, die 70 Jahre und älter sind.

In seinem engen Büro hängt ein Zettel, auf dem alle Wohneinheiten eingefärbt sind und das Alter der Bewohner anzeigen. In 37 der 160 Behausungen wohnen über 70-Jährige allein, in 34 mit mindestens einem Familienmitglied.

Als die jüngeren Evakuierten sich in der Fremde eine neue Existenz aufbauten, blieben die Alten zurück. Die meisten von ihnen bauten früher Gemüse an, sammelten Pilze oder arbeiteten als Landwirte oder Fischer - seit der Katastrophe ist es damit vorbei. Die Behörden haben sich lange nicht gekümmert, staatliche soziale Einrichtungen sind rar.

Sozialprojekte lindern Sorgen

Inzwischen wurden in vielen der Notunterkünfte Gemeindezentren errichtet. Fast täglich treffen sich dort Frauen zum gemeinsamen Basteln, Töpfern, Teetrinken und Reden. Aber es sind eben vor allem Frauen, sagt Shinichiro Ohara. Männer kommen in der traditionellen japanischen Gesellschaft viel weniger damit zurecht, Hilfe anzunehmen oder über Probleme zu reden. Weil sie nicht mehr arbeiten können, fühlen sie sich unnütz. Viele würden morgens das Haus verlassen und in der Gegend herumfahren, um nicht als untätig zu erscheinen.

Unterstützt von Caritas International führte Ohara Massagen und Urban-Gardening-Projekte ein, was oft auch Männer wahrnehmen. Dafür kämen diese gern in die Sozialzentren und tauschten sich aus. Das kann zwar nicht Probleme lösen, aber doch Sorgen mindern.

Entsorgung ungeklärt

"In den vergangenen fünf Jahren ist die Radioaktivität deutlich gesunken und wir können sagen, dass die Lage jetzt stabil ist", versichert der Leiter des zerstörten Atomkraftwerks Fukishima, Akira Ono. Rund 1200 Tepco-Angestellte sowie zusätzlich 7000 Arbeitskräfte von angeheuerten Vertragsunternehmen sind auch fünf Jahre nach dem Unglück tagtäglich in der Atomruine im Einsatz.

In erstaunlich vielen Bereichen dürfen sie sich dabei inzwischen ohne Vollgesichtsmasken bewegen. Die völlige Stilllegung des Akw wird noch 30 bis 40 Jahre dauern, bisher seien rund zehn Prozent geschafft, sagte Ono.

Doch die große Frage bleibt: Was soll mit dem radioaktivem Material geschehen? Täglich dringen Hunderte Tonnen Grundwasser in die Reaktorgebäude und vermischen sich dort mit dem verstrahlten Wasser zur Kühlung der geschmolzenen Brennstäbe. Wo die liegen, weiß auch nach fünf Jahren niemand genau.

Und dann ist da noch die verstrahlte Erde, die großflächig abgetragen wurde. Ganze Landschaften sind übersät mit schwarzen Plastiksäcken, obwohl ihre Haltbarkeit nur drei Jahre beträgt. Berichten zufolge sind etliche Säcke schon gerissen. Doch gegen ein Zwischen- oder gar Endlager gibt es Widerstand. dpa

Fukushima und die Folgen

Fast 16 000 Menschen kamen 2011 in Japan bei dem Erdbeben und dem darauffolgenden Tsunami ums Leben, 2500 gelten bis heute als vermisst.

Mehr als 2000 Tote als indirekte Folge der Katastrophe in der Region Fukushima hat die Regierung offiziell anerkannt.

Mehr als 120 000 Häuser wurden vollkommen zerstört. Etwa eine Million Gebäude wurden beschädigt und teils unbewohnbar.

Nach der Reaktorkatastrophe brachten japanische Behörden etwa 170 000 Menschen aus der Evakuierungszone um das Kraftwerk in Fukushima, noch einmal so viele verließen das Gebiet aus eigenem Antrieb.

Etwa 100 000 Menschen gelten noch heute als offiziell Evakuierte, fast 50 000 davon leben in Übergangseinrichtungen rund um die Sperrzone. Ein Jahr nach der Katastrophe waren es fast doppelt so viele. Bis März 2017 sollen alle Evakuierungen aufgehoben sein.

Die Regierung verhängte eine Sperrzone von drei Kilometern um das Kraftwerk, dann zehn, später 20 und schließlich 30. Noch gilt die 20-Kilometer-Zone. Allerdings wird in einigen Gegenden darin eine weniger hohe Strahlung gemessen als in vielen anderen Städten. In einigen Gegenden außerhalb liegt sie weitaus höher, sie dürfen nicht betreten werden.

In Fukushima-Stadt, das nicht im am schwersten betroffenen Gebiet liegt, wurden 2011 2,74 Microsievert pro Stunde gemessen, heute 0,18. Zum Vergleich: In München werden Werte von 0,12 erreicht.

Laut einem Bericht der Vereinten Nationen wurde keine signifikante Erhöhung der Krebsrate im Raum Fukushima registriert.

Japan verfügte vor der Katastrophe über 48 Atomkraftwerke, die anschließend alle heruntergefahren wurden. Jetzt steigt das Land wieder in die Kernenergie ein.

Die Regierung rechnet wegen der Katastrophe vom 11. März 2011 mit Folgekosten von mehreren Hundert Milliarden Euro. stürz

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