Bonn, Südstadt: Stockrosen und Hortensien umspielen die Fassaden der Gründerzeitvillen, die von der Nachmittagssonne angestrahlt werden. Dahinter liegen Studenten-WGs neben Anwaltskanzleien und Second-Hand-Läden. Das Rheinufer ist nur wenige Fußminuten entfernt. Die Kneipen heißen Sansibar oder Peters und die lauschigen Cafés am Straßenrand werben mit "Coffee to stay". Irgendwo dazwischen liegt das weiß getünchte Wohnhaus des ehemaligen Arbeits- und Sozialministers Norbert Blüm.
Herr Blüm, wie sicher ist die Rente Ihrer Enkelin?
Norbert Blüm: Wenn sich die Zertrümmerung des Rentensystems mit Riester und Co. fortsetzt wie bisher, mache ich mir große Sorgen. Die kapitalgedeckte Privatversicherung, die als große Rettung gefeiert wurde, hat sich als Flop entlarvt. Aber das System einer umlagefinanzierten Rente ist nach wie vor stabil. Es gibt nichts Besseres.
Stabil? Jeder fünfte Deutsche ist heute 65 Jahre oder älter, 2040 wird es fast jeder Dritte sein.
Blüm: Die Jungen zahlen für die Alten, das war immer schon so. Da können Sie das System organisieren, wie Sie wollen. Und wenn die Bevölkerung älter wird, müssen die Jungen mehr zahlen. Das ist das kleine Einmaleins. Wenn weniger Kinder geboren werden, gibt es eine Generation später auch weniger Rentner. In der Übergangsphase zahlen die Jungen mehr, das lässt sich nicht ändern. Aber sie können sich das auch leisten. Denn der Wohlstand ist gewachsen. Der Kuchen aus dem die Rentenbeiträge gezahlt werden, ist größer geworden.
Frau Beck, teilen Sie den Optimismus Ihres Großvaters?
Lilian Beck: Zugegeben, das Thema Rente ist noch nicht auf meiner Tagesordnung. Wenn ich es mir recht überlege, ist mein Lebensstandard ziemlich hoch: Ich studiere, verbringe Zeit im Ausland, mache in den Ferien Praktika in verschiedenen Städten. Außerdem habe ich das Glück, dass mich meine Eltern und Großeltern finanziell unterstützen. So kann ich mir eine gute Ausbildung leisten. Ich hoffe, dass ich so den Grundstein dafür lege, dass es mir im Alter auch mal gut geht.
Blüm: Meine Eltern, die Urgroßeltern von Lilli, haben zehn Prozent Rentenbeitrag gezahlt. Lilli wird rund zwanzig Prozent zahlen. Jetzt kann man sagen: die arme Lilli, das arme Kind! Ich behaupte: Lilli hat trotzdem mehr Geld als ihre Ur-großoma. Die Kopfzahl der Geburten ist nicht die maßgebliche Größe, sonst müsste es im Amazonas und im Kongo eine prima Altersversorgung geben. Entscheidend ist die gesellschaftliche Produktivität. Früher haben vier Arbeiter ein Auto am Tag gebaut, heute macht das einer. Da kann er auch vier mal so viel Beiträge leisten. Die Generation der heutigen Rentner hat es in ihrer Jugend nicht so gut gehabt wie Lilli.
Blüms Ehefrau, Marita Blüm, kommt mit einem Tablett ins Wohnzimmer. Sie stellt ihrer Enkelin, die gerade für ein Praktikum in Bonn ist, Schokoriegel auf den Tisch. An den Wohnzimmerwänden sind Bilder der Kunstmalerin aufgehängt. Seit 1964 ist sie mit Norbert Blüm verheiratet. Sie lernten sich als Studenten in einer Vorlesung von Joseph Ratzinger kennen.
Trotzdem: Abschlagsfreie Rente mit 63, Mütterrente, Erwerbsminderungsrente. Bleiben die Jüngeren bei solchen Wahlgeschenken nicht auf der Strecke?
Blüm: Diese ganzen Hampeleien sind nur Reparaturarbeiten an einem verpfuschten System. Wenn das Rentenniveau nicht so heruntergeschraubt worden wäre, müssten diese Verrenkungen jetzt nicht sein. Mit der Rentenreform 1997 wurde beschlossen, dass das Rentenniveau nicht unter 64 Prozent fallen darf, andernfalls müsste der Beitrag erhöht werden. Diese Größe wurde ja nicht willkürlich gewählt, weil das Rentenniveau aus meiner Sicht immer über dem Sozialhilfeniveau liegen muss.
Aber das Äquivalenzprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung funktioniert für den Einzelnen nur, wenn er in Arbeit ist und Beiträge zahlen kann . . .
Beck: Das stimmt. Wir Jungen investieren viel. Das Studium verdichtet sich, wir starten immer früher in den Beruf, um möglichst früh Arbeitserfahrung zu sammeln und einen guten Lebenslauf vorzuzeigen. Wir nutzen die Chancen, die uns die Welt bietet, aber gleichzeitig empfinden viele in unserer Generation auch einen hohen Konkurrenzdruck. Dabei wissen wir nicht mal, wann wir in Rente gehen werden.
Blüm: Die Rentenversicherung kann auch nicht der Schlüssel für alle sozialen Probleme sein. Sie kann die Fehler einer falschen Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik nicht wett machen. Wenn die Entwicklung der Arbeitswelt so weitergeht, sind wir wieder bei den Tagelöhnern. Dann ist aber nicht nur die Rente am Ende, dann steht die ganze Gesellschaft vor dem Abgrund. Es geht um die Renaissance einer alten Unternehmenskultur, die mehr ist als eine Kapitalsammelstelle. Wir müssen über neue Modelle in der Erwerbswelt sprechen, zum Beispiel Zeitkonten. Und in der Familienpolitik gibt es viele drängende Probleme: Dazu gehört das Scheidungsrecht, das in der Mehrzahl der Fälle immer noch auf Kosten der Frauen geht, die Schulpolitik, die Wohnungsbaupolitik, die Verkehrspolitik. Das sind die spannenden Fragen für Lilli und ihre Generation.
Das klingt so, als gebe es gar kein Problem mit der Rente.
Blüm: Doch. Das Problem ist, dass dieser Generation vorgelogen wurde, ihre Lasten würden durch die Riester-Riester, die ohne Sinn und Verstand ist, gemindert. Das ist nicht wahr. Der Generationenvertrag wurde mutwillig aufgekündigt und durch eine Soliarität der Geisterfahrer ersetzt. Denn die staatliche Förderung der Riester-Rente belastet auch diejenigen, die sich keine private Vorsorge leisten können. Der Schwache stützt den Starken - das ist die Philosophie der Riester-Rente. Sie hat keine Antwort auf Erwerbsunfähigkeit, keine Antwort auf Arbeitslosigkeit. Die Einführung war eine Olympiade des Lobbyismus zwischen Allianz und "Bild"-Zeitung.
Ist es nicht eine Frage der Vernunft, wenn junge Menschen vorsorgen? Ihre Enkel können doch nicht darauf hoffen, dass das gesetzliche System stabilisiert wird?
Blüm: Sie sollen nicht hoffen, sie müssen selbst auf die Straße gehen. Und ich habe nichts gegen eine zusätzliche, ergänzende private Vorsorge. Das soll jeder für sich machen, wie er möchte. Aber Riester darf kein Ersatz für die gesetzliche Rente sein.
Nochmal zum Mitschreiben: Wie soll ein Rentenniveau von 64 Prozent finanziert werden?
Blüm: Nach unseren Berechnungen war dafür 2030 ein Höchstbeitragssatz zwischen 24 und 26 Prozent nötig. Das ist auch nicht mehr als der vom Gesetzgeber angestrebte Satz von 22 Prozent. Denn dazu kommen in dem aktuellen System ja noch die vier Prozent für Riester. Diesen Anteil muss der Arbeitnehmer aber alleine zahlen.
Müssen die Jungen einfach mehr aufbegehren?
Blüm: Selbstverständlich. Jede Generation muss wieder neu dafür kämpfen, dass sich ihre Lebensbedingungen positiv gestalten. Wenn sich alles nur noch an Profitmaximierung orientiert, geht es schief.
Beck: Ich habe nicht das Gefühl, dass uns alles egal ist. Wir achten zum Beispiel viel mehr als frühere Generationen darauf, was auf unserem Teller landet, wo wir einkaufen. Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema in meinem Freundeskreis. Mein Opa hat mir zur Einschulung eine Patenschaft mit einem indischen Mädchen geschenkt. Ich habe sehr früh gelernt, dass es Menschen auf der Erde gibt, die weniger privilegiert sind als ich. Und in der Flüchtlingskrise haben sich auch viele Junge engagiert.
Blüm: Aber ihr müsst das auch von der Politik einfordern: dass sie Politik für die Menschen macht und nicht nur einem verrückt gewordenen Finanzkapitalismus hinterherläuft. Das lässt sich nicht mehr national regeln. Lillis Zukunft hängt entscheidend davon ab, ob Europa zusammenbleibt.
Ist die Vision einer Sozialunion in der gegenwärtigen Krise der EU denn realistisch?
Blüm: Die Alternative dazu ist Chaos. Nach dem Krieg war Europa auch unrealistisch. Wir brauchen wieder ein bisschen Schwung in der Bude. Wir brauchen eine europäische Regierung. Wir müssen Antworten finden auf die großen, drängenden Fragen. Die Vision einer europäischen Sozialunion gehört dazu. In einem Beitragssystem lassen sich Ansprüche zum Beispiel leichter transferieren als in einem Steuersystem. Und wir brauchen endlich eine einheitliche Finanz- und Wirtschaftsordnung, sonst bricht Europa im Standortwettstreit auseinander.
Beck: Die Idee von einem geeinten Europa hat für mich eine hohe Bedeutung. Die meisten der jungen Briten waren gegen den Brexit. Sie werden die Konsequenzen am stärksten zu spüren bekommen. Viele bereuen jetzt, dass sie nicht zur Wahl gegangen sind. Vielleicht braucht es solche Momente, um wach gerüttelt zu werden. Das Reisen, der Austausch, ist für meine Generation ja selbstverständlich, vielleicht manchmal zu selbstverständlich. Wenn ich die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Staaten sehe, mache ich mir schon Gedanken. Noch sieht die wirtschaftliche Lage in Deutschland gut aus. Aber wir leben ja nicht auf einer einsamen Insel. Das kann uns auch treffen.
Lilian Beck legt den Arm um ihren Großvater. Sie erzählt von ihrem 21. Geburtstag, den sie vor Kurzem auf Island gefeiert hat. Norbert Blüm, Lilian Beck nennt ihn "Nonno", hat seine Enkelin dort mit einem Besuch überrascht.
Blüm: Das ist es, was ich an Lilli mag: Dieser Hunger auf die Welt. Das sollte man sich im Alter beibehalten. Da braucht die Gesellschaft auch ein bisschen mehr Fantasie: Vielleicht kann man mit 70 nicht mehr auf dem Gerüst rumturnen, aber da lassen sich andere wichtige Aufgaben finden. Und wir Alten müssen aufpassen, dass wir nicht alles besser wissen. Meine Großeltern sind mir als Kind ziemlich auf den Geist gegangen, wenn sie gesagt haben: Früher waren die Kinder frommer, fleißiger, sauberer. Das ist Quatsch.
Beck: Ich habe das Gefühl, dass unsere Gesellschaft das Alter tabuisiert, die Großelterngeneration wird zu schnell aufs Abstellgleis gestellt. Wir können voneinander lernen, wir sollten uns zuhören, Erfahrungen weitergeben. Ich will nicht stehen bleiben und sagen: In Dormagen ist es schön. Nur wenn man die Welt kennt, kann man sie auch verbessern. Das habe ich mir für mein Leben vorgenommen.
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