Russland

Die Irrtümer der Geheimdienste

Experten sind sich sicher, dass falsche Annahmen zum Ukraine-Krieg führten und Putin getäuscht wurde

Von 
Miguel Sanches
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Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) und Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einer Videokonferenz. © picture alliance/dpa/Kreml | Alexei Nikolsky

Berlin. Russlands Kriegsplan für die Ukraine geht nicht auf. Die Russen konnten weder das Land erobern noch Präsident Wolodymyr Selenskyj absetzen, nicht mal die winzige, strategisch relevante Schlangeninsel im Schwarzen Meer halten. Die „Washington Post“ sieht nach der Prüfung von vertraulichen Akten den Geheimdienst FSB in der Verantwortung für die Fehleinschätzung, die zum Ukraine-Krieg führte: Wurde ausgerechnet ein gelernter Geheimdienstmann, Kremlchef Wladimir Putin, vom eigenen Apparat in die Irre geführt?

Dies ist die Geschichte von einem Schattenkrieg, der lange vor dem 24. Februar 2022 begann, womöglich Jahre früher – er handelt von mehr als nur einem Irrtum. Fehleinschätzungen unterliefen fast jedem Dienst: Die Russen erwarteten eine sanfte Kapitulation, die Ukraine keine klassische Invasion, keinen großen Landkrieg; die USA schon, aber nicht, dass sie in Kiew lange durchhalten würden. Der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) glaubte wohl an einen Bluff. Als der Krieg in jenen Februartagen begann, wurde BND-Präsident Bruno Kahl just in Kiew eines Besseren belehrt und musste eilends außer Landes gebracht werden.

Der FSB ist ein Inlandsgeheimdienst, was nach russischem Verständnis das westliche Nachbarland einschließt. Ab 2019 beginnt er, seine Ukraine-Abteilung aufzustocken: von 30 auf 160 Offiziere. Aus der abgefangenen Kommunikation wissen die Ukrainer, dass jedem eine Region zugewiesen wird, um Kollaborateure anzuwerben.

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Jan Jessen
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Rückblickend könnte es der Beginn der Vorbereitungen für eine Invasion gewesen sein. Damals legt man in Kiew die Signale anders aus: als Versuch, sich tiefer in die Ukraine einzugraben. Nicht ohne Erfolg. Bis heute hat die Ukraine nach Angaben des Innenministeriums mehr als 800 Personen festgenommen, die im Verdacht stehen, Russland durch Aufklärung oder Sabotage geholfen zu haben.

Sowjetische Vergangenheit

Allzu schwer haben es die russischen Agenten nicht. „Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Ukraine über Jahrzehnte fest im militärisch-sicherheitsdienstlichen Komplex der ehemaligen Sowjetunion integriert war“, erinnert Gerhard Conrad, ehemals Direktor des BND und des Brüsseler Intelligence Analysis Centre. Es gebe ein Milieu an Amtsträgern und Funktionären mit gemeinsamer sowjetischer Vergangenheit, Prägung und Loyalität, mit persönlichen und „insbesondere pragmatisch-materiellen Bindungen“.

Kahls Amtsvorgänger Gerhard Schindler sieht „keine Anhaltspunkte dafür, dass die russischen Geheimdienste quasi im vorauseilenden Gehorsam ein geschöntes Bild über die Lage in der Ukraine vermittelt haben“. Denn eine bewusste Fehleinschätzung, erklärt er, wäre für sie „ein unkalkulierbares Risiko gewesen“.

Wenn sich die Russen „meilenweit“ irrten, wie ein US-Beamter der „Washington Post“ sagte, sich strategische Ziele setzten, „die über ihren Verhältnissen lagen“ – dann aus Verblendung und nicht, um Putin zu täuschen. Dafür spricht, dass der FSB die Invasion vorbereitet hat: So standen mindestens zwei prorussische Regierungen nach Erkenntnissen des ukrainischen Geheimdienstes in Wartestellung, um ihren Platz in Kiew einzunehmen.

Zudem wird Oleg Kulinich, ein Schulfreund Selenskyjs beim Geheimdienst SBU, verdächtigt, für die Russen gearbeitet zu haben. In der Nacht der Invasion soll er Warnungen zurückgehalten haben. Und kurz vor der Invasion wurden alle Kollaborateure angewiesen zu verschwinden, ihre Wohnungsschlüssel aber zurückzulassen – für FSB-Agenten, die dann mit dem Militär in Kiew einziehen sollten.

Der Fall Kulinich zeigt, wie tief der FSB selbst den ukrainischen Sicherheitsapparat durchdrungen hat. Viele nahmen Geld, nicht alle lieferten Ergebnisse.

Eine Nichtregierungsorganisation veröffentlichte eine Liste von Aktivisten, Identitäten und Passnummern von Dutzenden mutmaßlichen Spionen, um die Pläne der Russen zu durchkreuzen. Ihr Plan: ein Blitzangriff auf Kiew. Nach dem Zerfall der Macht sollten die übrigen Regionen wie Dominosteine fallen. Danach würden die Kollaborateure zurückkehren und ihre neuen Plätze einnehmen.

Es kam anders. Die Russen mussten den Angriff auf Kiew abbrechen. Schindler sieht die Fehlleistungen beim Militär: „falsche Taktik, mangelnde Beherrschung des Zusammenwirkens von Boden- und Luftstreitkräften, unzureichende Eigensicherung und die Trefferungenauigkeit nahezu aller Systeme“. Es liege auf der Hand, dass die Verantwortlichen in Moskau hinter den Kulissen versuchten, die Verantwortung bei den Geheimdiensten abzuladen. Schon im April kursierten denn auch erste Berichte, wonach Putin seine Sündenböcke gefunden habe und dass mehrere FSB-Agenten in Hausarrest seien.

„Zwerge werden zu Riesen“

Klar ist auch: Putins Spione haben den Gegner falsch „gelesen“. Vielleicht haben sich die Ukrainer auch selbst überrascht. So viel Widerstandsfähigkeit ist vielen bis heute ein Rätsel. Der Politologe Ivan Krastev sagt: „Im Zeitalter der Resilienz zählt eher der Schmerz, den man ertragen kann, als der Schmerz, den man anderen zufügen kann.“ Als Schlüsselmoment gilt Selenskyjs Reaktion auf das US-Angebot, ihn in Sicherheit zu bringen: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Zur Psycho-Lage sagt Conrad: „Da können Sie nie sicher sein. Riesen werden zu Zwergen, Zwerge werden zu Riesen.“ Die russischen Dienste seien „beileibe kein Einzel- oder Sonderfall“.

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