Das Warten auf den großen Knall

In Lützerath im Rheinischen Kohlerevier stehen sich Klimaaktivisten und Polizei gegenüber. In dieser Woche sollen Räumung und Abriss beginnen. Der Konflikt ist programmiert

Lesedauer: 
Ein Aktivist auf einem sogenannten Tripod in Lützerath. Die Ortschaft soll zur Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II abgebaggert werden. © Federico Gambarini/dpa

Manche der Aktivisten vor dem aufgeschütteten Erdwall tragen weiße Overalls, andere schwarze Kleidung, die Gesichter der meisten sind hinter Schals oder Corona-Masken verborgen. Warmer Tee macht die Runde. Es weht ein kalter Wind an diesem Januarmorgen. Den Leuten vor dem Erdwall steht eine Reihe Polizisten gegenüber, ihre Helme baumeln an den Hüften. Hinter den Beamten türmt sich in der gewaltigen Grube ein monströser Schaufelradbagger auf. Am Horizont drehen sich Windräder. Noch weiter entfernt ist die Silhouette des Kraftwerks Neurath zu sehen, Dampf steigt aus den Schornsteinen in den bewölkten Himmel auf. Noch herrscht eine gespannte Ruhe. Ob sie hält oder ob sie in Gewalt umschlägt, werden die nächsten Tage zeigen.

Lützerath bei Erkelenz südlich von Mönchengladbach ist der Kristallisationspunkt der wohl letzten Auseinandersetzung um die Kohle. Die kleine Siedlung liegt im Rheinischen Braunkohlerevier direkt an der Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler, in dem der Brennstoff für das nahe Kraftwerk gewonnen wird. Lützerath besteht aus gerade einmal sieben Gebäuden, dennoch ist es zum Symbol für den Kampf gegen die Verfeuerung fossiler Brennstoffe geworden. Lützerath ist die letzte Siedlung, die der Braunkohle zum Opfer fallen soll, die in der Region seit 100 Jahren abgebaut wird. Noch in dieser Woche sollen die Räumung und der Abriss des Weilers beginnen.

In den vergangenen Jahrzehnten sind in der Region Dutzende Dörfer in den Gruben der Tagebaue verschwunden. Widerstand dagegen gibt es schon lange. In manchen Siedlungen sind verwitterte Protestschilder gegen Rheinbraun zu sehen, so hieß das Unternehmen, das hier die Braunkohle fördert, bis vor 20 Jahren. Heute heißt es RWE. Der Protest gegen den Abriss der Dörfer ist zunächst ein regionaler. „Ja zur Heimat“, steht auf manchen vergilbten Schildern.

Aktivisten haben sich eingenistet

Als der Protest gegen die Atomkraft abflaut, weil ihr Ende absehbar ist, und der Klimawandel auf die politische Agenda drängt, verändert sich die Tonlage im Rheinischen Braunkohlerevier. Der Kampf gegen die Kohle zieht Aktivisten an, die nicht in der Region leben, und für die dieser Kampf nicht weniger als einer für die Zukunft der Welt ist. Die Auseinandersetzungen verschärfen sich.

In Lützerath lebt heute keiner der ursprünglichen Einwohner mehr. Alle haben ihre Häuser an den Energiekonzern RWE verkauft, als letzter gibt im vergangenen Jahr der Landwirt Eckhardt Heukamp auf, eine Symbolfigur des Widerstands gegen die Kohle. Das Oberverwaltungsgericht in Münster weist zuvor seine Klage gegen seine Enteignung ab. Trotzdem leben heute Hunderte meist junge Menschen in Lützerath. Die leerstehenden Häuser sind jetzt besetzt.

Hinter Heukamps denkmalgeschütztem Hof haben sich Anti-Kohle-Aktivisten eingerichtet. Baumhäuser in den Wipfeln von Bäumen, Zelte, mit Holzstreu bedeckte Wege, Plakate und Transparente mit politischen Parolen. „Überall Polizei, nirgendwo Gerechtigkeit“ oder: „Der Kampf um Befreiung ist antinational“. Es geht ihnen hier um weit mehr als den Kohleausstieg. Sie wollen eine andere Gesellschaft, revolutionäre Veränderungen.

Sie wollen jetzt vor allem verhindern, was sie als politischen Verrat empfinden: Den Abriss von Lützerath, ermöglicht durch einen Kompromiss, den RWE und die grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bund) und Mona Neubaur (NRW) Anfang Oktober verkündeten. Der Energiekonzern steigt demnach schon 2030 aus der Kohle aus, dafür darf er jetzt noch rausholen, was unter Lützerath liegt. Es ist dieselbe Mona Neubaur, die vor einem Jahr in Lützerath mit Aktivisten für den Erhalt der Siedlung demonstrierte.

Was für die Bundes- und Landespolitik energiepolitisch notwendig und juristisch abgesichert ist, ist für die Aktivisten ein klimapolitischer Irrweg. Sie argumentieren: Wird die Siedlung abgerissen und die Kohle darunter verfeuert, reißt Deutschland das Ziel einer maximalen Erderwärmung um 1,5 Grad. „Lützerath muss bleiben, weil die Kohle im Boden bleiben muss“, sagt Mara, Mitte 20, eine Sprecherin der Aktivisten. Und: „Es kann nicht sein, dass wir in einer eskalierenden Klimakrise noch immer Dörfer für Kohle zerstören.“ In ihrem Kampf haben die Aktivisten prominente Unterstützer. Greta Thunberg hat Lützerath im September 2021 besucht. „Ein Ort voll Traurigkeit“, sagte die schwedische Klima-Ikone.

In dieser Woche soll nun die Räumung beginnen. So klar wie die Konfliktlinien sind, so groß ist die Gefahr, dass es zu Gewalt kommt. Fast flehend haben NRW-Politiker zuletzt um Deeskalation gebeten, im Hinterkopf das Beispiel der Räumung des Hambacher Forstes vor vier Jahren. Das kleine Waldstück sollte dem Tagebau Hambach zum Opfer fallen. Auch dort hatten sich Klimaaktivisten verschanzt und sich wochenlang erbitterte Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Kurz nach der Räumung untersagte das Oberverwaltungsgericht die Rodung.

Wasserwerfer stehen bereit

Die Polizei hat zur Räumung von Lützerath Hundertschaften zusammengezogen, darunter Spezialkräfte wie Höhenretter und Reiterstaffeln. Auch Wasserwerfer stehen bereit. Man erwarte einen „schwierigen und herausfordernden Einsatz mit erheblichen Risiken“, sagt Aachens Polizeipräsident Dirk Weinspach, der die Verantwortung für den Einsatz trägt, am Montag. Die Auseinandersetzungen werden sich nicht auf Lützerath beschränken, glaubt die Polizei. Man erwarte Störaktionen und Straftaten im gesamten Braunkohlerevier, so Einsatzleiter Wilhelm Sauer. Rund 500 Aktivisten sollen sich derzeit in der Siedlung aufhalten. „In den vergangenen Monaten sind diverse Baum- und Bodenstrukturen aufgebaut worden. Wir wissen nicht, was uns in den besetzten Gebäuden erwartet, ob dort Fallen aufgebaut worden sind.“ Man habe Hinweise, dass Demonstranten Steinkatapulte und Zwillen einsetzen wollten.

Die Polizei rechnet auch mit der Besetzung des Tagebaus selbst, möglicherweise könnten Aktivisten auch versuchen, die großen Schaufelradbagger zu kapern, wie sie es bereits in der Vergangenheit getan haben. Die Aktivisten wollten die Räumung „möglichst lang, möglichst schwer und möglichst teuer machen“, sagt Sauer.

Am Montagmorgen fahren schwere Bagger und Lastwagen von RWE in der Nähe der Abbruchkante hin und her, Mitarbeiter des Konzerns bauen Zäune auf, um den Zugang zum Tagebau zu verriegeln. Je näher die Zäune kommen, desto unruhiger werden die Aktivisten. Immer mehr setzen sich vor den Erdwall, hinter den sie einen Graben gebuddelt haben. „Bitte keine Steine“, ruft eine junge Frau. Tags zuvor hatten einige Aktivisten die Polizei mit Steinen attackiert. Trotz aller Appelle.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen