Interview - Vizekanzler Olaf Scholz über seine Wahlchancen und die Impf-Reihenfolge

„Das Rennen ist völlig offen“

Von 
Jochen Gaugele und Tim Braune
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SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz macht sich für die Bundestagswahl im September Hoffnungen. Der Finanzminister will an der Impfreihenfolge vorerst nichts ändern, Geimpfte allerdings mit Genesenen und Getesteten gleichstellen. © dpa

Berlin. Von einem gibt sich Olaf Scholz überzeugt: dass er Bundeskanzler wird. Obwohl die SPD in den Umfragen stabil bei 15 Prozent liegt. Im Interview, das diese Redaktion gemeinsam mit der französischen Partnerzeitung „Ouest-France“ geführt hat, blickt der Finanzminister, Vizekanzler und Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten über die Bundestagswahl hinaus.

Herr Scholz, überlegen Sie schon, was Sie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron bei Ihrem Antrittsbesuch im Élysée-Palast sagen?

Der Hanseat

Olaf Scholz (62) ist seit 2018 Bundesfinanzminister und Vizekanzler. Nachdem er bei der Wahl zum SPD-Chef 2019 scheiterte, ernannte ihn die Partei zum Kanzlerkandidaten.

Scholz kam 1958 in Osnabrück zur Welt, wuchs in Hamburg auf und studierte dort Jura. 1975 trat er in die SPD ein, 2002 wurde er ihr Generalsekretär. Scholz war Arbeitsminister (2007 bis 2009) und bis 2018 Erster Bürgermeister in Hamburg. Er lebt mit seiner Frau Britta Ernst in Potsdam.

Am Sonntag wählte ihn die Brandenburger SPD auf Platz eins der Landesliste. mark

Olaf Scholz: Nein, dazu ist jetzt nicht die Zeit. Und der französische Präsident und ich sind uns schon häufiger begegnet. Wir sind uns einig über zwei Dinge: die große Bedeutung der französisch-deutschen Zusammenarbeit für den Fortschritt in Europa und das Ziel einer europäischen Souveränität. In einer Welt, die um die Mitte dieses Jahrhunderts zehn Milliarden Einwohner hat, werden die Staaten der Europäischen Union mit ihren etwa 400 Millionen Einwohnern nur relevant sein, wenn sie gemeinsam handeln. Darauf kommt es an!

Annalena Baerbock und Armin Laschet haben – nach allen Umfragen – erheblich größere Chancen, als Kanzlerin oder Kanzler nach Paris zu reisen. Wie wollen Sie diese Wahl gegen Grüne und Union gewinnen?

Scholz: Das Rennen ist völlig offen. Gerade zeigt sich doch die Bewegung, auf die wir von Anfang an gesetzt haben: Die Union verliert erheblich an Zustimmung und wird nur ein Ergebnis von deutlich unter 30 Prozent erreichen. Sie hat keine politischen Konzepte mehr aufzubieten, und ihr Spitzenpersonal überzeugt nicht mal sie selbst. Es ist möglich, das Kanzleramt zu erringen mit einem Wahlergebnis von oberhalb 20 Prozent. Und ich bin sehr zuversichtlich: Der nächste Kanzler wird ein Sozialdemokrat sein.

Ihre Parteichefin Saskia Esken hält Grün-Rot-Rot für ein realistisches Szenario.

Scholz: Die beiden Parteivorsitzenden, der Fraktionsvorsitzende und ich verfolgen gemeinsam das gleiche Ziel: Die SPD soll die nächste Regierung führen.

Die Corona-Politik wird die Stimmung zur Bundestagswahl prägen. Wie wollen Sie das Impfen beschleunigen?

Scholz: Endlich geht es auch mit dem Impfen in Deutschland wirklich voran, in der vergangenen Woche hat es an einem einzigen Tag mehr als 1,1 Millionen Impfungen gegeben. Insgesamt haben bereits mehr als 22 Millionen Bürgerinnen und Bürger zumindest ihre erste Impfung erhalten – das sollte uns allen Hoffnung machen. Jetzt müssen wir alle Kräfte mobilisieren, damit das Tempo hoch bleibt und die verfügbaren Impfstoffdosen auch rasch verimpft werden.

Warum halten Sie immer noch an der Impfreihenfolge fest?

Scholz: Ganz einfach: Für mich ist es ein Zeichen von Respekt, dass wir zunächst die impfen, die besonders schutzbedürftig sind, sowie die, die sich für uns alle im Einsatz befinden und einem besonderen Risiko ausgesetzt sind: die Älteren, diejenigen mit Vorerkrankungen, Polizistinnen und Polizisten, Lehrerinnen und Lehrer. Spätestens im Juni werden wir das Impfen endlich auf alle ausweiten können. Wenn wir zu früh die Priorisierung aufgeben, fürchte ich das Windhund-Prinzip: Wer gut vernetzt ist und jemanden kennt, der jemanden kennt, hat dann viel bessere Karten als jemand, der weniger gut verdrahtet ist. Und ich schlage vor, mobile Impfteams in sozial benachteiligte Stadtteile zu schicken, wo die Inzidenzen oft besonders hoch sind, und dort gezielt zu impfen. Das nutzt uns am Ende allen.

Welche Freiheiten sollen Geimpfte dann aber bekommen – und wann?

Scholz: Geimpfte müssen die gleichen Möglichkeiten haben wie Genesene und frisch Getestete. Das werden wir in einer Verordnung regeln, an der gerade intensiv gearbeitet wird. Mir ist wichtig, dass sich unser Vorschlag streng an den Grundrechten orientiert. Einschränkungen der Handlungsfreiheit sind nur gerechtfertigt, wenn sie dem Schutz der eigenen Gesundheit und der anderer Bürgerinnen und Bürger dienen. Wo das nicht der Fall ist, sehe ich wenig Grundlagen für Beschränkungen.

Was bedeutet das für die Ausgangssperren?

Scholz: Wenn eine Bürgerin, ein Bürger mit vollständigem Impfschutz, in der Regel also 14 Tage nach der zweiten Impfung, nur mit geringster Wahrscheinlichkeit einen anderen gefährdet, sind bestimmte Beschränkungen schwer zu rechtfertigen. Das Infektionsschutzgesetz sieht bereits Ausnahmen von den Ausgangsbeschränkungen vor: für diejenigen, die Angehörige betreuen, von der Arbeit kommen oder Sport machen zwischen 22 und 24 Uhr. Um Ausnahmen für Personen, die niemanden gefährden, weil sie vollständig geimpft sind, wird man da nicht herumkommen. Die Argumente, die dagegen ins Feld geführt werden, überzeugen mich nicht.

Werden Geimpfte auch von der Maske befreit?

Scholz: Nein, das glaube ich nicht. Wir werden wohl noch länger Abstands- und Hygieneregeln beachten müssen. Das hört nicht von einem Tag auf den anderen auf, auch nicht für die Geimpften, denn ein Restrisiko bleibt bestehen.

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