Rottenburg an der Laaber. Der große Knall ist jetzt sechs Wochen her. Wie eine Tretmine, vergraben vor Jahrzehnten, platzte da mit einem Bericht in der „Süddeutschen Zeitung“ ein antisemitisches Flugblatt aus den 1980er-Jahren in den bayerischen Landtagswahlkampf. Flog dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger um die Ohren, in dessen Schultasche das Pamphlet einst gefunden wurde, und in der Folge CSU-Ministerpräsident Markus Söder. Setzte beide massiv unter Druck, bis es Aiwangers älteren Bruder Helmut aus der Deckung zwang – er gibt an, das Blatt verfasst zu haben.
Vor der Wahl am Sonntag hat sich der Staub, den das Flugblatt aufgewirbelt hat, wieder etwas gelegt. Doch in Rottenburg an der Laaber, dem Heimatort von Hubert Aiwanger, kann man den Erschütterungen, die der Knall verursacht hat, noch nachspüren. Rund 8500 Menschen leben hier, viele von der Landwirtschaft, verteilt über den Hauptort und viele kleinere Gemeindeteile außerhalb. Das jüngste Nachbeben kam erst in der vergangenen Woche. Da erklärten Angelika Wimmer und ein Kollege, nicht mehr wie bisher die kleine SPD-Fraktion im Rottenburger Stadtrat sein zu wollen – sondern stattdessen zur Fraktion der Freien Wähler überzulaufen. Sie begründeten das unter anderem mit dem Umgang der SPD mit Hubert Aiwanger.
Wenige Tage danach sitzt Wimmer auf der Terrasse vor ihrem Haus und wirkt erschöpft. Hinter ihr liege ein „Shitstorm“, erzählt sie. Böse E-Mails aus ganz Deutschland habe sie bekommen. Dass ihre Entscheidung so ein großes Echo finden würde – weit über Rottenburg, über Niederbayern hinaus –, damit hat sie nicht gerechnet. Eigentlich, sagt sie, sei die Sache mit Aiwanger nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Schon länger sei sie nicht mehr zufrieden gewesen mit der Politik der Ampelkoalition im Bund, „mit diesem links-grünen Ruck“. Seit Monaten habe sie überlegt, ob sie bei der SPD noch richtig sei. Und dann kam das Flugblatt. Mehrmals habe sie sich das Schriftstück durchgelesen, sagt Wimmer. „Beim ersten Mal war ich sehr schockiert.“ Doch damit Wahlkampf zu machen, das sei nicht ihre Art. Schule müsse ein geschützter Raum sein. „Das darf nicht zur Regel werden, dass da Sachen nach 30 Jahren ausgepackt werden, um jemandem zu schaden“, sagt Angelika Wimmer heute.
Einer, der Kompromisse sucht
Überregional ist Aiwanger bekannt als einer, der in Bierzelten gegen Berlin ledert, auf X (vormals Twitter) gegen Klimaaktivisten keilt und schon einmal im Ton so sehr danebengreift, dass er Schlagzeilen macht bis nach Norddeutschland. In Rottenburg ist er jemand, der immer wieder als besonnen beschrieben wird, als einer, der Kompromisse sucht. Einer, der zu Vereinsjubiläen auftaucht und zu Volksfesten, „nicht nur alle fünf Jahre zum Wahlkampf“, wie Wimmer sagt. Und von dem hier jetzt viele das Gefühl haben, dass ihm geschadet werden soll. „80 Prozent oder mehr hier stehen hinter ihm“, schätzt sie.
Viel Zuspruch
Tatsächlich geschadet hat die Sache Aiwanger allerdings laut den Umfragen nicht. Bei 15 bis 16 Prozent steht die Partei wenige Tage vor der Wahl. Anfang August waren es noch zwölf Prozent. Rauskommen könnten am Ende 17 Prozent, sagt Alfred Holzner. Der Rottenburger Bürgermeister gehört wie Aiwanger den Freien Wählern an. Er ist einer von denen, die von der Entwicklung profitieren könnten. „Die Stimmung ist gut“, erzählt Holzner. Man bekomme viel Zuspruch.
Wie der Parteichef selbst spricht auch Holzner von einer Kampagne, die gegen Aiwanger gefahren worden sei. In der Folge erkennt er eine Solidarisierung. „Die Bürger sind nicht doof“, sagt er. Lieber gewesen wäre es ihm trotzdem anders. Auch wenn es der Partei bei dieser Wahl am Ende wohl nicht schaden werde: „Langfristig bringt das keinem was“, so Holzner. Er sorgt sich, dass das, was unter dem Titel „Flugblatt-Affäre“ bekannt geworden ist, die Gesellschaft weiter spaltet. „Am Ende hat man vielleicht noch die Politikverdrossenheit verstärkt“, vermutet Holzner. Der Mann, mit dem nach eigener Aussage alles begann, ist der ältere Bruder des stellvertretenden Ministerpräsidenten, Helmut Aiwanger. Er betreibt in Rottenburg ein Waffengeschäft. Nachdem bekannt geworden war, dass er das Flugblatt geschrieben haben soll, hing an seinem Schaufenster ein Zettel mit einer Lektüreempfehlung: Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Im Roman wird eine junge Frau Opfer einer Boulevardzeitungskampagne – und erschießt schließlich einen Reporter.
„Ein krasser Schülerstreich“
Der Zettel ist weg, und der ältere Aiwanger-Bruder klingt ruhig, wenn er über das Flugblatt spricht. Ihm sei es darum gegangen, die damalige Lehrerschaft zu provozieren, die er in Teilen als sehr links empfunden habe. „Das war ein krasser Schülerstreich“, sagt Helmut Aiwanger, die Arme vor der Brust verschränkt. „Obwohl es insgesamt natürlich günstiger gewesen wäre, wenn es diesen Zettel nie gegeben hätte.“ Natürlich sei der Inhalt des Flugblatts „krass und menschenverachtend“. Nur dass es antisemitisch sei, das weist er zurück. Diese Beschreibung ärgere ihn.
Wenn es unter den rund 8500 Einwohnern Rottenburgs diejenigen gibt, denen die Erklärungen der Aiwanger-Brüder nicht ausreichen, die finden, dass Hitlergrüße und antisemitische Flugblätter ernster sind als das, was man sonst so als Jugendsünde bezeichnet, dann sind sie in diesen Tagen vor der Wahl schwer zu finden. Der ehemalige Lehrer, der das Flugblatt aufgehoben und an die Presse gegeben haben soll, will sich nicht mehr äußern. Und bei der örtlichen SPD, die Angelika Wimmer verlassen hat, haben sie auch keine Lust mehr. „Wahrscheinlich sprechen sie ihn bald noch heilig“, sagt einer am Telefon über Aiwanger. Auch bei der CSU in Rottenburg will über den Knall und seine Folgen für den Wahlkampf niemand mehr sprechen. Zähneknirschend hatten Ministerpräsident Söder und seine Leute an Aiwanger festgehalten.
Doch es hat der CSU nichts gebracht. Im Gegenteil, wenige Tage vor der Wahl muss die ewige bayerische Regierungspartei bangen, ob das historisch schlechte Wahlergebnis von 2018 noch einmal unterlaufen wird. Es wäre ein Alarmsignal, auch für die Bundestagswahl. Denn bei etwa 35 Prozent in Bayern würde sie bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde unterschreiten – und wäre nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr im Bundestag.
Wenn Rottenburg wählen geht, wird auch Andreas Inderst im Wahllokal sein. Wen er wählen werde? „Aiwanger“, sagt Inderst, den man beim Spaziergang mit seinem Hund trifft, ohne zu zögern. „Weil er ein normaler Mensch ist, ein normaler Mensch aus Bayern“. Eigentlich habe er nicht unbedingt vorgehabt, wählen zu gehen. Jetzt sei er entschlossen, es zu tun. Am Sonntag wählt Bayern, wählt Rottenburg an der Laaber. Vielleicht kommt dann der nächste große Knall.
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