Interview

Bundeskanzler Olaf Scholz: „Man muss mit Putin reden“

Heute vor einem Jahr wurde Olaf Scholz als Bundeskanzler vereidigt, elf Wochen später war die Welt eine andere. Im Interview sagt Scholz, warum er zuversichtlich auf sein zweites Jahr als Regierungschef blickt

Lesedauer: 
Bundeskanzler Olaf Scholz am 5. Dezember im Bundeskanzleramt in Berlin. © Reto Klar/Funke Foto Services

Berlin. Herr Bundeskanzler, Sie haben nach längerer Zeit wieder mit Wladimir Putin telefoniert. Wie darf man sich so ein Gespräch vorstellen?

Olaf Scholz: Wir blicken natürlich aus völlig unterschiedlichen Perspektiven auf den Krieg und seine Ursachen. Ich bin aber überzeugt, dass man trotz dieser furchtbaren Situation miteinander reden muss. Damit Putin unseren Standpunkt auch immer wieder hört. Mir waren im letzten Gespräch zwei Punkte wichtig: Ich habe den Bombenterror auf ukrainische Städte und ihre Energie- und Wasserversorgung verurteilt, das verstößt klar gegen das Völkerrecht. Und ich habe Putin gefragt, wann Russland endlich bereit sei, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen. Anders könne es nicht zu einer fairen Verständigung kommen. Klar ist: Einen Diktatfrieden zu russischen Bedingungen darf es nicht geben.

Sehen Sie Bewegung im Kreml? Wächst die Bereitschaft zur Verständigung?

Scholz: Wir sehen, wie der Krieg mit unverminderter Brutalität fortgeführt wird. Verändert hat sich vorerst eines: Russland hat aufgehört, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen. Als Reaktion darauf, dass die internationale Gemeinschaft eine rote Linie markiert hat. Bei meinem Besuch in Peking haben der chinesische Präsident Xi und ich gemeinsam zum Ausdruck gebracht, dass Atomwaffen nicht eingesetzt werden dürfen. Kurz darauf haben die G-20-Staaten diese Haltung bekräftigt.

Ist die Gefahr einer atomaren Eskalation abgewendet?

Scholz: Für den Augenblick haben wir einen Pflock dagegen eingeschlagen.

Frankreichs Präsident Macron ist der Meinung, Russland brauche „Sicherheitsgarantien“. Unterstützen Sie das?

Scholz: Vordringlich geht es jetzt darum, dass Russland den Krieg sofort beendet und die Truppen zurückzieht. Richtig ist, dass es dann um die Frage geht, wie wir Sicherheit für Europa erreichen können. Natürlich sind wir bereit, mit Russland über Rüstungskontrolle in Europa zu sprechen. Das haben wir schon vor dem Krieg angeboten, und an dieser Position hat sich nichts geändert.

Olaf Scholz - steile Karriere

  • Olaf Scholz (64) ist seit Dezember 2021 Bundeskanzler. Vorher war er Finanzminister und Vizekanzler unter Kanzlerin Angela Merkel (ab März 2018), davor Erster Bürgermeister von Hamburg (ab März 2011).
  • Das erste Bundestagsmandat erhielt er 1998. Von 2007 bis 2009 war er Bundesminister für Arbeit und Soziales. Zwischen Februar und April 2018 leitete Scholz die SPD kommissarisch. Bei der Wahl zum Parteichef 2019 unterlag er mit Co-Kandidatin Klara Geywitz.
  • Scholz wurde als ältester von drei Söhnen in Osnabrück geboren. Noch als Kind zog er mit Eltern und Geschwistern nach Hamburg. Der Rechtsanwalt lebt mit seiner Frau Britta Ernst in Potsdam

Was bedeutet das für den dringenden Wunsch der Ukraine nach deutschen Kampfpanzern?

Scholz: Deutschland gehört nach den USA zu den Ländern, die die Ukraine am stärksten unterstützen, auch mit Waffen. Und wir handeln immer in enger Absprache und im Einklang mit den Verbündeten. Übrigens hat niemand Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert.

Gibt es einen tieferen Grund für Ihre Zurückhaltung? Hat Putin mit einem Angriff auf Deutschland gedroht?

Scholz: Ich weiß nicht, wie oft ich diesem Gerücht schon entgegengetreten bin – das ist Quatsch. Und nochmal: Wir liefern sehr viele, sehr effektive Waffen. Und die abgewogene Position der Regierung wird im Übrigen von einer großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstützt.

Die Bürgerinnen und Bürger fragen sich, ob die Bundeswehr unser Land verteidigen kann. Wie lange wird es dauern, bis Deutschland über einen Raketenabwehrschirm verfügt?

Scholz: Putins Überfall auf die Ukraine stellt eine Zeitenwende dar, das habe ich am 27. Februar klar formuliert. Als Konsequenz verstärken wir unsere Verteidigungsfähigkeit. Deutschland wird dauerhaft zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Bundeswehr ausgeben. Wir haben ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro geschaffen, um die nötigen Ausgaben tätigen zu können. Unter anderem bauen wir die Luftverteidigung aus – das sogenannte Sky Shield. 14 EU-Staaten haben bereits ihr Interesse bekundet, daran teilzunehmen.

Wann also kommt das Raketenabwehrsystem?

Scholz: Meine Hoffnung ist, dass der Abwehrschirm in den nächsten fünf Jahren steht. Gerade spricht die Regierung mit den Herstellern der verschiedenen Systeme, um die konkreten Entscheidungen vorzubereiten.

Finanzminister Lindner sagt: Der Krieg macht uns alle ärmer. Hat er recht?

Scholz: Die Bürgerinnen und Bürger spüren die Kosten für den Krieg – die Preise für Energie und für Lebensmittel sind stark gestiegen. Russland hat entgegen allen Versprechungen seine Gaslieferungen nach Deutschland eingestellt. Trotzdem kommen wir wohl durch diesen Winter, weil wir Gaslieferungen aus anderen Ländern organisiert haben, die Gasspeicher gefüllt sind, Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen haben und Atomkraftwerke länger am Netz lassen. Zugleich beschleunigen wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Das schafft neue Wachstumschancen.

Wie lange wird es dauern, bis sich die Energiepreise normalisieren?

Scholz: Erstmal haben wir 200 Milliarden Euro mobilisiert, um die Energiepreise in diesem und im nächsten Winter zu dämpfen. Die Erwartung ist, dass sich die Gaspreise danach normalisieren, weil wir neue Importmöglichkeiten zur Verfügung haben werden. Wir werden wohl nicht zu den günstigen Preisen zurückkehren, die wir vor dem Krieg hatten. Deutschland wird aber eine starke und erfolgreiche Industrienation bleiben.

Gelingt das ganz ohne russisches Gas?

Scholz: Mit russischen Energielieferungen sollte man nicht mehr rechnen. Wir treffen jetzt die nötigen Entscheidungen, um uns langfristig unabhängig zu machen. Von 2045 an wollen wir komplett klimaneutral wirtschaften und unsere Energie gänzlich ohne Erdgas, Kohle oder Öl erzeugen.

Ist es klug, auf die Nutzung heimischer Schiefergasvorkommen zu verzichten?

Scholz: Fracking in Deutschland ist eine Fata Morgana: Wenn man ihr näherkommt, löst sie sich in Luft auf. Investitionen in deutsche Schiefergasförderung würden sich kaum lohnen, weil es zu lange dauert, bis man heimische Quellen nutzen könnte – bis dahin wird der Gasbedarf deutlich zurückgegangen sein. Und es gibt keinerlei Unterstützung in der Gesellschaft für die Ausbeutung dieser Vorkommen in Deutschland.

Also lieber Fracking-Gas aus den USA importieren?

Scholz: Zu lange hatten wir uns bei der Energieversorgung zu einem großen Teil auf Russland gestützt. So etwas darf uns nicht wieder passieren, weder bei Gas noch bei anderen Rohstoffen. Deutschland diversifiziert seine Versorgung und bezieht Gas, Kohle und Erdöl künftig aus vielen verschiedenen Quellen. Der Volksmund weiß: Man sollte nicht alle Eier in einen Korb legen.

Die US-Regierung will die Inflation mit Milliarden-Subventionen bekämpfen – zu Lasten der europäischen Industrie. Steuern wir auf einen Handelskrieg zu?

Scholz: Nein, das erwarte ich nicht. Erstmal ist es gut, dass US-Präsident Biden mit der Gesetzgebung ambitionierte Klimaziele verfolgt. Die Förderung von E-Autos in den USA ist ein Verdienst des Präsidenten. Andererseits enthält das Gesetz Regelungen, mit denen wir nicht einverstanden sind, weil sie nicht vereinbar sind mit dem internationalen Handelsrecht und keinen fairen Wettbewerb ermöglichen.

Wie reagieren Sie?

Scholz: Die Europäische Union steht im direkten Gespräch mit den USA, um über die konkrete Umsetzung des Gesetzes zu sprechen. Denn es darf nicht zu einer massiven Beeinträchtigung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit kommen. Europa und die USA sind Freunde, und das muss sich auch in den Handelsbeziehungen niederschlagen.

Eine Schlüsselfrage ist, wie die Lasten der Krise gerecht verteilt werden können. Die Wirtschaftsweisen raten zu höheren Steuern für Gutverdienende. Hat das Ihre Sympathie?

Scholz: Die dramatischen Preissteigerungen belasten Bürger – deshalb hat die Koalition weitreichende Entscheidungen getroffen, um zu entlasten. Wir haben drei große Pakete geschnürt und beispielsweise die kalte Steuerprogression korrigiert. Gleichzeitig schöpfen wir sogenannte Zufallsgewinne bei Energieversorgern ab. Das ist wichtig, um einen Teil der Entlastungen zu finanzieren. Im Übrigen regieren drei Parteien, die vor einem Jahr einen Koalitionsvertrag geschlossen haben. Auf die Anhebung von Steuern haben wir uns nicht verständigt.

Newsletter "Guten Morgen Mannheim!" - kostenlos registrieren

FDP-Chef Lindner leidet öffentlich an der Zusammenarbeit mit SPD und Grünen. Wie nehmen Sie das Klima in der Koalition, die Stimmung am Kabinettstisch wahr?

Scholz: Menschlich und politisch ist das Klima in der Koalition sehr gut.

Der SPD-Vorsitzende Klingbeil hat der Ampel für ihr erstes Jahr die Note 3 plus gegeben. Wie sieht Ihre Bewertung aus?

Scholz: Sich selbst zu benoten, wäre unangemessen. Ich bin aber zufrieden, dass wir in diesen aufgeregten Zeiten mit vielen Herausforderungen als Regierung ziemlich stabil dastehen. Unser Land wird wohl gut durch den Winter kommen. Wir unterstützen die Ukraine, damit sie sich der russischen Aggression widersetzen kann. Und wir haben den Erneuerbaren Energien neuen Schwung verliehen und die Modernisierung unserer Wirtschaft eingeleitet. Das ist eine Gemeinschaftsleistung der Regierungsparteien.

Die Bürger geben Ihnen eher schlechte Noten. Eine Mehrheit ist von Regierung und Kanzler enttäuscht. Ist das undankbar?

Scholz: Ich bin dankbar für das Maß an Unterstützung, das ich habe – und für die Möglichkeit, noch weitere Unterstützung zu gewinnen.

Ist die Entscheidung schon gefallen, ob Sie bei der nächsten Bundestagswahl wieder antreten?

Scholz: Na, Sie stellen Fragen! Natürlich trete ich an. Ich will, dass die Regierungskoalition so gut dasteht, dass sie erneut das Mandat erhält.

Wie zuversichtlich blicken Sie auf das kommende Jahr?

Scholz: Deutschland ist stark genug, um diese Zeit durchzustehen – trotz der Folgen des russischen Angriffskriegs. Wenn wir zusammenhalten, werden wir gut durchkommen.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen