Mannheim. Die Zustände in Teilen der Branche sorgen seit Jahren immer wieder für Aufregung. Was muss geschehen, damit Tierwohl, faire Arbeitsbedingungen und die Lebensmittelversorgung gleichermaßen gesichert sind? Sechs Frauen und Männer aus der Region diskutieren darüber.
Wie viel Fleisch essen Sie persönlich – und essen wir insgesamt zu viel davon?
Peter Cornelius: Ich esse natürlich schon von Berufswegen gerne Fleisch und Wurst. Aber an manchen Tagen gibt es auch nur Pellkartoffeln mit Spiegelei. So habe ich das in meiner Kindheit gelernt, da war Fleisch noch was Besonderes, wie der Sonntagsbraten. Mir wäre es lieber, wir würden den Fleischkonsum insgesamt um zehn bis 15 Prozent reduzieren und die Qualität und das Tierwohl dafür nach oben schrauben.
Michael Hocker: Ich habe früher Leistungssport getrieben, da war in der Vorbereitung immer Fleisch auf dem Teller. Heute esse ich ab und zu ein gutes Steak und achte insgesamt auf eine ausgewogene Ernährung. Meine Vermutung ist, dass sich zwei Drittel der Deutschen schon gesund ernähren. Es gibt natürlich welche, die zu viel Fleisch essen. Aber Fleisch ist auch ein Träger von Eiweiß und Aminosäuren.
Christina Eberle: Also ich ernähre mich vegetarisch, seit ich sechs Jahre alt bin, seit einiger Zeit sogar vegan. Ich lasse meine Werte regelmäßig kontrollieren, die sind immer top. Auch viele Sportler steigen auf vegane Ernährung um, weil sie nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen gesünder ist. Im Durchschnitt isst der Deutsche im Jahr knapp 60 Kilogramm Fleisch. Das ist definitiv zu viel. Nicht nur aus gesundheitlichen Gründen, sondern auch mit Blick auf den Umwelt- und Tierschutz. Solche Mengen können nicht nachhaltig und tiergerecht produziert werden.
Beate Czodrowski: Mein Mann ist Jäger, wir essen zu Hause erlegtes Wild. Wildbratwürste sind im Familienkreis oder wenn Freunde zum Grillen kommen der Renner. Da weiß ich, was drin ist und wie es hergestellt wurde. Wir sind eine fünfköpfige Familie, darunter zwei Teenies im Wachstum. Die machen schon mal ein langes Gesicht, wenn ein vegetarisches Curry auf den Tisch kommt. Da haben wir als Familie auch mal die Diskussion: Wie viel Fleisch ist gesund? Insgesamt glaube ich, dass der Fleischkonsum in manchen Haushalten zu hoch ist. Auch in Schulmensen steht oft zu viel Fleisch auf dem Speiseplan.
Beate Czodrowski, Leiterin des Caritas-Zentrums in Ludwigshafen. Bild: Rinderspacher
Wolfgang Guckert: Bei uns zu Hause ist der Fleischkonsum in den letzten Jahren rückläufig. Wir essen genauso gern Käse, Müsli und Gemüse. Neben dem Sonntagsbraten gibt es aber auch unter der Woche Fleisch. Wir sind auf dem Hof von morgens bis abends am Arbeiten. Da braucht der Körper eine gewisse Menge an Nährstoffen. Die könnte man dem Körper auch anders zuführen, keine Frage, aber für uns gehört zum Genuss Fleisch dazu. Das sollte jeder für sich entscheiden. Was mir nicht gefällt ist, dass viele missionarisch unterwegs sind. Wenn man sich fast nicht mehr traut, ein Stück Fleisch im Restaurant zu bestellen.
Elwis Capece: Ich denke, dass ich mich relativ ausgewogen ernähre. Ich schaue, dass die Anteile von Fleisch, Gemüse und Fisch stimmen. Insgesamt glaube ich, dass es zu viel Fleischkonsum gibt. Das lässt sich auch statistisch belegen. Noch immer orientiert sich der Konsum daran, dass man früher Männer in Schwerstarbeit hatte. Da hat sich die Gesellschaft aber verändert. Wir haben sehr viel mehr Menschen, die bei ihrer Arbeit keinen großen körperlichen Belastungen ausgesetzt sind. Das hat sich also verschoben, der Fleischkonsum nicht.
Corona-Ausbrüche haben den Fokus auf die Arbeitsbedingungen in einigen Schlachtbetrieben gelenkt. Die Bundesregierung hat nun für die Branche ein Verbot von Werk- und Zeitarbeit beschlossen. Ist das sinnvoll?
Cornelius: Mit einem Verbot stehe ich ein bisschen auf Kriegsfuß, weil in ganz vielen anderen Bereichen der Wirtschaft auch Werkverträge gemacht werden. Aus meiner Sicht darf man nicht eine Branche herausziehen und das nur dort verbieten. Zu Werkverträgen gibt es zudem klare gesetzliche Regelungen. Die sind einzuhalten, da gibt es kein Wenn und Aber. Man muss den Fokus mehr auf die Kontrollen legen. Zum Vergleich: Ich wohne in einer 30er-Zone. Sie wollen nicht wissen, wie manche Leute da durchrasen. Aber nur weil sich einzelne nicht an die Regeln halten, gibt es ja auch nicht gleich ein komplettes Fahrverbot.
Capece: Da geben Sie mir eine Steilvorlage! Ich weiß nicht, ob sie mal gesehen haben, wie Werkvertragsarbeiter von Schlachtbetrieben wohnen müssen. Ich habe mir das mehrfach angeguckt, das ist katastrophal. Die Bedingungen an den Arbeitsplätzen sind schwer. Der Job ist stressig, sechs, sieben Tage in der Woche, Arbeitszeiten und -schutzgesetze werden kaum eingehalten. Und Werkverträge im eigentlichen Sinn sind das gar nicht. Von einem Werkvertrag spricht man klassisch, wenn eine Leistung erbracht wird, damit die Produktion laufen kann. Sie ist aber nicht Teil der Produktionskette. Zum Beispiel der Mechaniker, der von einem externen Handwerksbetrieb in die Fabrik kommt, um eine Maschine zu warten. Wir als NGG haben erhebliche Zweifel, ob man die Schlachtung von Tieren unabhängig von der weiteren Verarbeitung sehen kann.
Eberle: Was wir zuletzt in den Medien gesehen haben, sind keine Ausnahmen. Es ist schon lange bekannt, dass in der Fleischindustrie einiges schief läuft. Bei vielen Betrieben werden Arbeitsschutzbedingungen nicht eingehalten. Die geplanten Maßnahmen gehen in die richtige Richtung, aber insgesamt stimmt im System etwas nicht. Das sieht man, wenn man mal in Schlachthöfen war und weiß, wie es dort abläuft. Den Arbeiterinnen und Arbeitern bleiben nur wenige Sekunden, um ein Tier zu töten. Gerade, wenn man mit lebenden Wesen zu tun hat, darf das aber nicht wie am Fließband ablaufen. Darunter leiden Tiere, aber auch die Menschen – oft Billiglohnarbeiter aus Osteuropa. Wo ich mich Ihnen anschließe, Herr Cornelius, ist beim Thema Kontrollen. Wir können noch so gute gesetzliche Vorgaben haben: Wenn nicht kontrolliert wird, sind sie nichts wert.
Guckert: Die Angriffe von Herrn Capece kann ich so nicht stehenlassen. Man darf nicht eine ganze Branche über einen Kamm scheren. Wir wissen, dass es überall schwarze Schafe gibt, da kann man in jede Branche reinschauen. Wir können nicht sagen: Alle Schlachthöfe sind per se Arbeitskräfteausbeuter oder Tierquäler. Wir sind jede Woche auf dem Regio Schlachthof Mannheim, ich würde sagen, dass die Arbeitsverhältnisse hier ziemlich in Ordnung sind. Auch für die Tiere ist genügend Stallplatz vorhanden. Jedes Schwein hat einen Fressplatz, Futter und Tränke. In den Buchten sind Spielgeräte, bis die Schlachtung kommt. Das läuft zehnmal ruhiger ab als noch vor einigen Jahren. In der Vergangenheit wurden aber leider viele kleine Schlachtstätten zugemacht – zugunsten von Mega-Schlachthöfen. Das ist in meinen Augen der falsche Weg.
Wolfgang Guckert, Landwirt und Vorsitzender des Kreisbauernverbands Rhein-Neckar. Bild: Rinderspacher
Eberle: Es geht nicht darum, alle über einen Kamm zu scheren. Und ich bin total bei Ihnen, dass wir keine Mega-Höfe mit Akkord-Schlachtung wollen, wo kaum Zeit bleibt, um eine Betäubung zu setzen. Aber nur weil ein Schlachthof regional ist, heißt das nicht, dass dort alles gut läuft. Ich sehe auch den Mannheimer Schlachthof nicht als Vorbild. Ich war 2016 vor Ort, als er noch in städtischer Hand war. Das ist ein sehr altes Gebäude, da werden Sie mir zustimmen, Herr Hocker. Die Treibgänge für die Tiere sind sehr eng, und es gab damals erhebliche Missstände, auch bei der Unterbringung.
Capece: Man kann die regionalen Betriebe sicher nicht freisprechen, aber im Gros muss man schon zwischen ihnen und den großen Fabriken unterscheiden. Diese riesigen Schlachtereien à la Tönnies, oder im Südwesten zum Beispiel Müller Fleisch, gibt es erst seit rund 30 Jahren – das ging zulasten der regionalen Schlachthöfe. Und schon fast genauso lange fahren wir als Gewerkschaft Kampagnen zum Umgang mit den Tieren und Beschäftigten in großen Schlachtfabriken. Ich habe kürzlich beim Aufräumen zu Hause ein Buch in die Hand gekriegt, das die Missstände anprangert, da war Frau Künast noch zuständige Ministerin. Da sehen Sie mal, wie lange diese Problematik schon auf dem Tisch liegt.
Hocker: Frau Eberle, als Sie 2016 bei uns waren, hatten wir Kapazitäten für 1100 Schweine, heute sind wir bei 550. Eben weil wir die Ställe vergrößert und dafür gesorgt haben, dass jedes Tier seinen Fressplatz hat. Unsere 20 Mitarbeiter sind alle aus der Region und hier angestellt. Wir arbeiten mit einem Zeiterfassungssystem. Es gibt keine Werkverträge oder Leute, die zusammen in einer Unterkunft wohnen. Und ich weiß, wovon ich spreche, ich stehe selbst mit am Band. Was die großen Betriebe wie Tönnies und Werkverträge betrifft: Meiner Meinung nach hätte man da schon vor 30 Jahren eingreifen müssen. In den großen Schlachtfabriken wurden Kontrollen über Jahre verschlafen, jeder konnte machen, was er wollte. Und jetzt will man mit dem Hammer durch die ganze Branche fahren. Das finde ich nicht ok. Die Politik von oben ist viel zu weit weg von den ganzen Geschehnissen.
Michael Hocker, Geschäftsführer des Regio Schlachthofs Mannheim. Bild: Rinderspacher
Cornelius: Ich möchte mal noch einen anderen Aspekt in die Diskussion bringen: Der Handel setzt die ganze Kette massiv unter Druck, weil er mit preisaggressiven Angeboten unterwegs ist – und der Verbraucher nimmt sie an. Aus diesem Teufelskreis müssen wir rauskommen. Wenn ich mir die Situation für einen Bauern anschaue: Vor Corona waren die Schweinepreise auf einem ganz guten Weg. Da hatte man einen Kilopreis von 2,03 Euro, davon konnte ein Bauer leben. Jetzt ist die Vermarktung von Edelteilen, also Kurzbratstücken wie Steaks, sehr schwierig geworden – allein, weil die Gastronomie durch den Lockdown geschlossen hat. Der Preis ist auf 1,19 Euro gefallen. Wenn ich mir überlege, dass der Bauer zwischen 40 und 45 Euro für das Ferkel bezahlt und das steht dann sechs Monate im Stall und kriegt Futter, da weiß ich gar nicht, von was der leben soll.
Wie viel darf Fleisch kosten?
Czodrowski: Bei der Caritas arbeiten wir viel mit Menschen, die staatliche Unterstützung bekommen. Wie viel Fleisch – das für mich als Grundnahrungsmittel gilt – können sich Menschen mit kleinem Geldbeutel leisten? Diese Frage muss man in die Diskussion einbeziehen, neben artgerechter Tierhaltung und der fairen Entlohnung von Mitarbeitern in Schlachthöfen. Der aktuelle Hartz-IV-Satz für einen alleinstehenden Erwachsenen liegt bei 432 Euro im Monat für den Bedarf des täglichen Lebens. Für Nahrungsmittel werden dabei etwa 150 Euro kalkuliert. Da haben die Menschen wenig finanziellen Spielraum, teure Lebensmittel zu bezahlen. Mit Hartz IV kann man sich kein teures Fleisch leisten. Das geben die Sätze nicht her, auch wenn sie ab 2021 erhöht werden.
Eberle: Ich habe mal in das Kaufland-Prospekt von letzter Woche geschaut: Grillhaxe vom Schwein für 2,93 Euro – da kosten zwei Bio-Gurken bei Rewe mehr. Ich finde, da läuft irgendwas schief. Fleisch ist so billig wie nie, auch im Verhältnis zu den Einkommen der Menschen. Die Billigproduktion mit industrialisierter Tierhaltung verursacht massive Schäden an Klima und Umwelt. Das ist ein hoher Preis für das billige Fleisch – und den zahlt am Ende die Allgemeinheit. Das ist nicht sozial und nicht gerecht. Und dabei geht es ja gar nicht nur um die Versorgung unserer Bürgerinnen und Bürger. Deutschland ist bei Schweinefleisch der drittgrößte Exporteur weltweit. Wir verkaufen über ein Drittel unseres Fleisches ins Ausland. Da müssen wir definitiv unsere Strukturen überdenken.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Eberle: Es gibt viele politische Ansätze. Zum Beispiel eine Tierwohl-Abgabe oder eine CO2-Steuer auf Fleisch, um auszugleichen, welche Schäden die Produktion verursacht. Mit dieser Umlage könnte man die Bauern unterstützen, die von den niedrigen Fleischpreisen nicht leben können. Die treffen ja besonders die Landwirte hart, die nachhaltig und tiergerecht produzieren wollen: kleine, familiengeführte Betriebe. Sie können im Wettbewerb nicht mithalten, die großen industrialisierten Betriebe schon. Insgesamt brauchen wir aber eine komplette Agrarwende hin zu einer tiergerechten und umweltverträglichen Landwirtschaft.
Christina Eberle, Tierschützerin und Grünen-Stadträtin in Mannheim. Bild: Rinderspacher
Guckert: Fleisch ist zu billig. Als ich mit meiner Ausbildung angefangen habe, 1976, hat eine Familie noch 30 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben. Heute sind es zehn bis elf Prozent. In der Radio-Werbung donnerstags und freitags stehen Fleisch und Wurst oft an erster Stelle. Das sind Produkte, mit denen die Kunden in die Märkte gelockt werden sollen. Ich habe mal bei einem Erntedankfest des Kreises gesagt: Mir tut jedes Schwein leid, das am Donnerstag und Freitag durch die Werbung verramscht wird. Das hat ein Schwein nicht verdient. Es ist mehr wert. Solange wir nicht von dieser Geiz-ist-geil-Mentalität wegkommen, wird sich wenig ändern. Die Leidtragenden sind Landwirte, Tiere und Arbeiter. Da muss ich Ihnen Recht geben, Frau Eberle: Das ist ein Fehler im System. Wenn man nach Schweden schaut: Dort kostet das einheimische Fleisch 70 Prozent mehr als die Importe aus Deutschland, Dänemark und den Niederlanden. Trotzdem kauft der Großteil der schwedischen Bevölkerung das heimische Fleisch. Weil sie wissen, das wurde mit höheren Standards produziert, das Tier hatte mehr Platz und vielleicht auch Stroh. Die Menschen sind bereit, dafür einen höheren Preis zu bezahlen. Wenn wir da hinkämen, wären schon viele Probleme gelöst.
Frau Czodrowski, Sie beraten bei der Caritas Menschen mit wenig Geld. Halten Sie eine Abgabe auf Fleisch etwa für Tierwohl für vermittelbar?
Czodrowski: Wir haben ja nicht DIE eine Zielgruppe. Einige würden sicherlich sagen: „Ich habe nur so wenig Geld zur Verfügung, und mir ist es wichtig, Fleisch zu essen – wie soll ich das denn bezahlen?“. Sie kaufen das billige Fleisch, ohne sich um Tierwohl oder Klimaschutz zu kümmern. Es gibt aber auch Menschen, die trotz „kleinem Geldbeutel“ darauf achten, dass die Lebensmittel, die sie kaufen, einen fairen Preis haben. Wenn es gelingt, Menschen zu sensibilisieren, warum eine Tierwohl-Abgabe sinnvoll ist und wie das alles mit dem Klimaschutz zusammenhängt, wären manche sicher bereit, öfter mal auf Fleisch zu verzichten, um dafür ab und zu qualitativbesseres Fleisch zu kaufen. Das sehe ich allerdings nicht nur auf Menschen mit geringem Einkommen bezogen, sondern auf alle Gesellschaftsschichten.
Cornelius: Große Händler haben sich schon an einer Tierwohl-Abgabe beteiligt. Da sind Millionen geflossen für Landwirte, die sich für das Tierwohl einsetzen. Aber man darf nicht vergessen: Es gibt in Deutschland 30 000 Betriebe, die Tiere halten und Fleisch erzeugen. Es ist nicht so einfach, das System umzustellen. Ich hätte als Unternehmer kein Problem damit, für mein Rohmaterial, also Fleisch, zehn, fünfzehn Cent mehr zu bezahlen – wenn es Bauern zugute kommt, die auf das Tierwohl achten. Aber auch das muss wieder kontrolliert werden.
Peter Cornelius, Geschäftsführer und Inhaber von Cornelius Wurstwaren in Hockenheim. Bild: Rinderspacher
Capece: Lebensmittel sind allgemein zu billig. Schauen wir uns mal die Preise und Einkommen in Frankreich an: Die Menschen verdienen weniger, aber der Anteil der Einkommen, der für Lebensmittel ausgegeben wird, ist höher. Bei uns wird mit Lebensmittelpreisen Sozialpolitik gemacht – das ist falsch. Man darf nicht die Frage stellen, wie billig Fleisch sein muss, damit es sich jeder leisten kann. Stattdessen müssen die Transferleistungen für Menschen mit geringem oder keinem Einkommen, für Rentner, die von Armut betroffen sind, steigen. Wir brauchen einen Mindestlohn von zwölf Euro. Hartz IV führt Menschen in Armut. Egal, ob das Fleisch einen Euro mehr kostet oder nicht. Der Überkonsum ist eine weitere Baustelle. Es kann nicht sein, dass ein großer Teil des Fleisches, das hier produziert wird, um den Globus geschippert wird, aber gleichzeitig Fleisch aus Südamerika, aus den USA nach Deutschland kommt. Fleischbetriebe aus Skandinavien, Holland, Belgien produzieren lieber in Deutschland als in ihrem eigenen Land, weil es hier viel billiger ist. Um das rückgängig zu machen, müssen wir aufhören, Lebensmittel zu verramschen. Davon profitieren Viehzüchter, Landwirte, die mittelständische Lebensmittel- und Schlachtindustrie. Weil die dann bei den Preisen mithalten können.
Elwis Capece, regionaler Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten. Bild: Rinderspacher
Sie sind sich einig, dass wir von der Massenproduktion wegkommen und regionale Betriebe stärken sollten. Wie kann das gehen?
Hocker: Das Problem ist: Die Fleischpreise, die der Landwirt bekommt, werden von den Großen gemacht. Herr Tönnies macht die Preise. Und wenn sich ein Landwirt wie Herr Guckert die Mühe macht, Regeln für das Tierwohl einzuhalten, dann verstehe ich nicht, warum Herr Guckert nicht selbst bestimmen kann, was er für sein Fleisch bekommen möchte. Im Moment ist der Preis im Keller, weil Herr Tönnies durch Corona nicht schlachten konnte. Und die Gewinner sind in diesem Fall die Großunternehmen im Einzelhandel. Weil sie das Fleisch billig einkaufen und sich der Verkaufspreis für den Verbraucher trotzdem nur geringfügig verändert.
Guckert: Wir halten hier auf dem Hof circa 80 Schweine. Die liegen alle auf Stroh, haben ordentlich Platz und werden per Hand gefüttert. Wir sehen unsere Tiere also zweimal am Tag. Wir haben dementsprechend auch keine Probleme etwa mit Schwanzbeißen, was Schweine zum Beispiel machen, wenn ihnen langweilig ist oder sie zu wenig Platz haben. Wir füttern eigenes Futter. Das Gleiche gilt für unsere Kühe, die wir im Odenwald halten. Das können wir uns nur leisten, weil wir die Direktvermarktung hier am Hof haben. Wer für Discounter oder Supermärkte Schweine mästet, muss die Kosten auf ein Minimum senken. Das geht dann nur mit perforiertem Betonboden ohne Stroh. Aber auch die Exportpolitik der Großproduzenten wie Tönnies oder Westfleisch ist ein Problem. Da werden die Weltmärkte auf Kosten der Landwirte und der Tiere erobert. Das ist der falsche Weg. Wir sollten uns auf die eigenen Stärken und die eigenen Verbraucher konzentrieren. Solange die Preise für Lebensmittel von vier oder fünf Einkäufern bestimmt werden, wird die Landwirtschaft da nichts entgegensetzen können.
Eberle: Was wir ganz dringend brauchen, sind gesetzliche, verbindliche Regelungen für Tierhaltung und Produktion. Dann funktionieren solche Massen- und Intensivhaltungen nicht mehr. Das beginnt ja schon bei der Überzüchtung der Tiere. Puten werden so gezüchtet, dass sie kaum oder gar nicht aufrecht stehen können. Oder der Transport: Kälber, die teilweise erst fünf Tage alt sind, werden tagelang und ohne Wasser durch halb Europa transportiert. Ferkel, denen die Schwänze kupiert werden, Muttersauen in Metallboxen, in denen sie sich nicht richtig hinlegen können. Das ist alles gesetzlich zulässig – und muss endlich verboten werden. Dann kann man nicht mehr in dieser Masse produzieren und die Preise steigen automatisch.
Auch der Verbraucher könnte den Markt beeinflussen, wenn er billiges Fleisch im Supermarkt liegenlässt. Brauchen wir mehr Aufklärung über die Zustände?
Czodrowski: Ich glaube, die wenigsten wissen um die Herstellungsbedingungen oder haben auf dem Schirm, wie das Fleisch in den Supermarkt kommt. Wenn das transparenter wäre, hätte der Verbraucher eher die Chance, über seinen eigenen Konsum nachzudenken. Ich sehe da zwar auch den Verbraucher selbst in der Pflicht, aber wenn man sich hinsetzen und selbst recherchieren muss, überfordert das manche. Daher kommt die Haltung: Es ist mir egal, woher das kommt, Hauptsache, ich kann es essen. Die Politik müsste deshalb für mehr Transparenz sorgen, mit einer einfach verständlichen Darstellung auf den Verpackungen.
Eberle: Es wird oft gesagt: Der Verbraucher regelt das. Aber der Verbraucher sieht im Supermarkt auf jeder Milchpackung schöne Bilder von Kühen auf einer Weide – und wird damit über die wahren Zustände getäuscht. Unter diesen Voraussetzungen kann der Verbraucher gar nicht den Markt regulieren – und er wird es auch nicht. Deshalb brauchen wir eine verbindliche Haltungskennzeichnung und verbindliche Regelungen, um höhere Tierschutzstandards zu erreichen.
Guckert: Aber dann darf man nicht den Fehler machen, wie es bei den Legehennen passiert ist. Mehr als die Hälfte des Eierverbrauchs in Deutschland besteht aus Flüssig-Ei, das fast komplett in Osteuropa erzeugt wird – in Käfighaltung. Wenn wir hier die Regeln verschärfen, braucht es auch eine Klausel, die den Import von Billigfleisch aus anderen Ländern regelt.
Cornelius: Wenn man sich den Gesamtmarkt anschaut – dann geht so ein Wandel nur über die Europäische Union.
Kann das denn funktionieren?
Eberle: Es ist aus rechtlichen Gründen EU-weit nicht so einfach, Importe zu regulieren. Ein ganz zentrales Steuerungselement ist aber die Gemeinsame Agrarpolitik GAP. Damit lässt sich auch ein europaweiter landwirtschaftlicher Umbau vorantreiben. Hier brauchen wir eine Subventionspolitik, die weg von der Masse geht. Ein Großteil der derzeitigen Zahlungen geht an die Intensivproduktion. Das fördert auch Überkapazitäten: Je mehr man produziert, umso mehr Subventionen bekommt man. Das ist natürlich der völlig falsche Weg. Subventionszahlungen müssen an eine tiergerechte, nachhaltige und umwelt- und klimagerechte Landwirtschaft gehen.
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