Bewohner retten ihr Dorf

Der von den Wassermassen zerstörte Eifelort Mayschoß ist von der Außenwelt abgeschnitten. Die Einwohner sind auf sich gestellt und stemmen sich mit vereinten Kräften gegen das Chaos.

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Dutzende durch die Flut unbrauchbar gewordene Elektrogeräte liegen am Ufer der Ahr. Zahlreiche Häuser in Mayschoß wurden von der Flutwelle stark in Mitleidenschaft gezogen oder ganz fortgerissen. © dpa

Wo das Zentrum des einst bildhübschen Eifel-dorfs Mayschoß war, sind Schutt und Schlamm geblieben. Von der Sparkasse existieren nur noch Mauerreste, aus dem geborstenen Fenster der Pizzeria Picasso schaufelt jemand haufenweise Matsch auf die verdreckte Straße. Nur die auf einer Anhöhe gebaute Kirche, die steht da in der Sommersonne, als hätte es die Jahrhundertflut an der Ahr nie gegeben.

Innen drin: Gewusel wie auf einem postapokalyptischen Wochenmarkt. Auf dem Altar liegen Gummistiefel, auf den Betbänken stapeln sich Verbandkästen, Seife und saubere Unterhosen. Was im totalen Tumult eben gebraucht wird. Sophie Sermann (22) behält den Überblick und weiß, wo alles steht – die Kopflampen, die Konserven, die Medikamente. Tagein, tagaus ist sie in der Kirche und hilft, wo sie kann. „Zu Hause kann ich eh nichts machen. Durch unser Sammellager verschaffen wir den Leuten ein Stück Sicherheit.“

Die Menschen in Mayschoß stemmen sich mit vereinten Kräften gegen das Chaos. Der von Wald und Weinbergen umgebene Talort in Rheinland-Pfalz ist von der Außenwelt abgeschnitten: Die Bundesstraße 267, die wichtigste Route zwischen den zerstörten Touristenstädtchen im gefluteten Ahrtal, ist vom Wasser mitgerissen worden, auch die Bahnschienen gibt es nicht mehr. Nur noch über steinige Wirtschaftswege kommt man hinein ins Katastrophengebiet – oder hinaus. Deshalb nehmen die Mayschosser die Katastrophenhilfe in die Hand. „Wir helfen uns selbst“, sagt Sophie Sermann, die eigentlich nächsten Monat ihr Staatsexamen als Physiotherapeutin ablegen wollte.

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dpa
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Stattdessen versorgt sie Überlebende mit dem Notwendigsten – im Schritttempo hergeschafft von Privatpersonen mit robusten Geländewagen. „Am Mittwoch vor einer Woche wurden wir überflutet“, erinnert sie sich mühsam, es kommt ihr vor, als sei das ewig her. „Am Donnerstag haben wir Leute aus ihren Häusern gerettet. Ab Freitag haben wir unsere eigene Katastrophenhilfe aufgebaut.“

Es ist die Zeit für Heldentaten: Hamburg hatte während der Sturmflut 1962 Helmut Schmidt, Mayschoß hat Hubertus Kunz. Der 71-jährige Bürgermeister läuft die völlig verschlammte Dorfstraße entlang und führt zu seinem Haus, einem 130 Jahre alten, mit Geranien und Rebstöcken geschmückten Bruchsteingebäude. Auf dem Weg dorthin stoppt er immer wieder, um Bürgerinnen und Bürger zu trösten, umarmt eine weinende Frau, scherzt mit einem schlammschippenden Mann. Humor helfe, die Anspannung zu lösen.

Seit 1989 übt der CDU-Mann – mit einer Unterbrechung – sein Ehrenamt aus, in der Krise wächst er über sich hinaus. Mittlerweile sind Bundeswehrsoldaten mit Spitzhacken da, Hubschrauber landen auf einem Asphaltplatz vor dem halbwegs intakten Bahnhofsgebäude. Doch in den ersten Tagen gab es keine Hilfe von außerhalb. Also erklärte Kunz Mayschoß zur autonomen Gemeinde, berief einen Krisenstab und ließ einen Waldweg teeren, um das Dorf aus der Isolation zu führen. Formalitäten scheren ihn nicht: „Bis die Bundesstraße repariert ist, wird es viele Monate dauern. So viel Zeit haben wir nicht. Die Grünen werden mich vierteilen, wenn das vorbei ist. Aber das ist mir egal“, dröhnt er.

Der Mann mit dem weißen Vollbart hat größere Sorgen. Als die Flut kam, flüchtete er sich mit seiner Familie aufs Dach und harrte dort in Todesangst aus. Nun ist das Haus unbewohnbar. Kunz ist auf einem Obsthof untergekommen und denkt Tag und Nacht an die Gemeinschaft. Er glaubt an die Schwarmintelligenz: „Unter 1000 Menschen finden Sie alle Kompetenzen, die es in der Not braucht.“ Im Krisenstab arbeiten Feuerwehrleute, Handwerker, ein ehemaliger Polizist mit Afghanistan-Erfahrung.

Kunz ist seit 50 Jahren in der Politik. Er kennt in Rheinland-Pfalz so gut wie jeden vom Gemeinderatsmitglied bis zum Innenminister – auch aus seiner Zeit als Hauptpersonalrat im Mainzer Bildungsministerium. Auf dem „kurzen Dienstweg“ sicherte er sich die Unterstützung der Berufsfeuerwehr Ludwigshafen, um eine Wasseraufbereitung, eine Krankenstation, Sanitäranlagen und eine Lebensmittelversorgung aufzubauen.

Kunz deutet auf sein ruiniertes Haus. Familienangehörige und Nachbarn stapfen mit Spaten durch den Morast. Es wird von Tag zu Tag schwerer, den festtrocknenden Schlamm wegzuschaufeln. Für einen Moment schießen dem Bürgermeister Tränen in die Augen. Er ist gesundheitlich angeschlagen. Im September will er sein Amt aufgeben und in den Ruhestand. Erst Corona, dann die Flut: Zum Ende seiner Karriere erfährt er eine Schicksalsprüfung nach der nächsten. Aber er blinzelt die Tränen weg und findet für alle ein aufmunterndes Wort. „Man muss jeden Bürger wertschätzen“, sagt er. „Dann ist auch jeder Einzelne bereit, sich einzubringen.“

Hoffnung verbreiten – das ist das Wichtigste. Findet auch Matthias Baltes (39), der Geschäftsführer der örtlichen Winzergenossenschaft. In der Halle, in der bis vor einer Woche die Trauben verarbeitet wurden, liegen auf dem Boden schmutzverkrustete Weinflaschen herum. Für die Genossenschaft – gegründet vor 150 Jahren und damit der weltweit älteste noch bestehende Zusammenschluss von Weinbauern – könnte die Flut den Anfang vom Ende bedeuten.

„Im unter Wasser stehenden Fasskeller lagern 300 000 Liter Wein. Der ist verloren, denn die Fässer sind offenporig.“ Trotzdem: Baltes und seine Mitstreiter planen die nächste Ernte. „Wir müssen die Weinberge retten.“ Davon hänge ab, ob Mayschoß und die anderen Weinorte an der Ahr eine Zukunft haben – oder zu Geisterorten werden.

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