Seit dem Massaker der Hamas ist ein halbes Jahr vergangen. Wie nah ist Israel seinem Ziel gekommen, die Terrororganisation zu vernichten?
Annalena Baerbock: Viele Terroreinheiten wurden zerstört. Aber die Raketenangriffe auf Israel gehen weiter, da Hamas Israel weiter vernichten möchte. Und viele der am 7. Oktober auf brutalste Art und Weise verschleppten Geiseln sind noch immer nicht frei – mehr als 100 Frauen, Männer und Kinder, das jüngste ist ein Jahr alt. Der Terror des 7. Oktober war nicht nur eine Katastrophe für Israel, sondern auch für die Palästinenser. Mehr als eine Million Menschen in Gaza sind akut von Hunger bedroht. Man kann sich das Leid einer Mutter, eines Vaters in Gaza kaum vorstellen, die nicht wissen, wie sie ihr Kind durch den nächsten Tag retten sollen.
Wann ruhen die Waffen?
Baerbock: Für einen wirklichen, dauerhaften Waffenstillstand muss die Hamas ihre Waffen niederlegen, damit die israelische Armee sich zurückziehen kann. Das tut die Hamas aber nicht. Daher arbeiten wir mit Katar, mit Ägypten, mit den Amerikanern und anderen daran, dass es zumindest erst mal einen Deal für eine weitere humanitäre Feuerpause gibt, weitere Geiseln freikommen und damit endlich mehr Lebensmittel und Medikamente zu den Not leidenden Menschen gelangen. Ich hatte gehofft, dass das vor dem Ramadan möglich ist. Aber leider hat sich das zerschlagen.
Sie haben Israel aufgefordert, aus einem „Drehbuch des Terrors“ auszubrechen. Was meinen Sie denn damit?
Baerbock: Die Hamas setzt ganz bewusst darauf, dass die Not in diesem Krieg für die Zivilbevölkerung so groß wird, dass ihr Terror vergessen wird. Daher haben wir als Bundesregierung von Beginn an an die israelische Regierung appelliert: Je stärker militärisch vorgegangen wird, desto stärker muss der Schutz der Zivilbevölkerung sein. Mein eindringliches Eintreten gegenüber der israelischen Regierung ist, endlich ausreichend Lebensmittel und medizinische Versorgung zu den Menschen in Gaza zu lassen, weil Menschlichkeit unteilbar ist. Hunger spielt zudem Terror in die Hände. Zu wenig humanitäre Hilfe gefährdet auch die Sicherheit Israels selbst.
Wäre eine Bodenoffensive in der Stadt Rafah, wie sie Israel vorbereitet, ein Akt des Terrors?
Baerbock: Wie gesagt: Der Terror geht weiter von der Hamas aus. Gerade auch aus dem Süden Gazas, das ist nicht zu akzeptieren. In Rafah suchen aber auch eine Million Menschen Schutz. Sie können sich nicht in Luft auflösen. Eine Großoffensive auf Rafah darf es nicht geben. Auch sie würde die Sicherheit Israels gefährden.
Was kommt nach dem Krieg? Wer soll den Gazastreifen kontrollieren?
Baerbock: Die Palästinenserinnen und Palästinenser – frei von der Hamas, frei von Terror, selbstbestimmt und mit einer frei gewählten Regierung aller Palästinenser, also auch im Westjordanland.
Ist das realistisch?
Baerbock: Das wird nicht von einem Tag auf den anderen passieren. Aber wir dürfen gerade jetzt im Krieg den politischen Horizont nicht aus den Augen verlieren. Daher arbeiten wir vor allem mit unseren arabischen Partnern Tag für Tag daran, dass die Zwei-Staaten-Lösung in Reichweite bleibt. Dazu gehören der Aufbau einer zivilen Infrastruktur, eine Reform der Palästinensischen Autonomiebehörde, der wirtschaftliche Wiederaufbau – und eine Sicherheitsstruktur, inklusive Sicherheitsgarantien für Israel und für die Palästinenser. Und dazu gehört, die israelische Regierung daran zu erinnern, dass die Siedlungspolitik nicht nur einen palästinensischen Staat verbaut, sondern auch buchstäblich den Frieden. Denn nur die Zwei-Staaten-Lösung kann nachhaltigen Frieden und Sicherheit auch für die Menschen in Israel bringen.
Sollte auch Deutschland für die Sicherheit garantieren?
Baerbock: Es geht um Schutz für eine Übergangszeit, bevor zwei Staaten in Frieden nebeneinander leben können. Das kann nur mit internationalen Sicherheitsgarantien funktionieren. Israel muss sich sicher sein, dass nie wieder Terrorgefahr von Palästina ausgeht, und Palästinenser müssen sicher sein, dass sie auf ihrem eigenen Land sicher und in Würde leben können. Das heißt, es müssen natürlich arabische Nachbarländer beteiligt sein, die dort Vertrauen genießen. Aber auch enge Freunde Israels, weswegen wir als Deutsche neben den Amerikanern und Briten uns über den politischen Horizont gerade so den Kopf zerbrechen.
Krieg in Nahost, Krieg in der Ukraine – gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht an diesem Osterfest?
Baerbock: All die Menschen, die sich in dieser brutalen Zeit gerade nicht Populismus und Schwarz-Weiß-Denken hingeben. Sondern die für Unteilbarkeit unserer Menschlichkeit einstehen. Klar ist es angesichts des Leids und der Ängste manchmal einfacher, eine Seite oder ein Leid einfach auszublenden. Aber davon geht die Brutalität des Krieges ja nicht weg. Wir dürfen die Hoffnung niemals aufgeben, weil sich ansonsten die Ruchlosigkeit in der Welt durchsetzt. Gerade angesichts der brutalen Konflikte ist das Entscheidende, dass wir jeden Tag versuchen, einen Schritt voranzukommen in Richtung Sicherheit und Frieden – sei es im Nahen Osten, sei es in der Ukraine.
Die Friedensbewegung ruft wieder zu den traditionellen Ostermärschen auf. Welche Botschaft sollte davon ausgehen?
Baerbock: Menschlichkeit ist unteilbar. Alles andere ist brandgefährlich. Menschen in Israel dürfen nicht gegen Menschen in Palästina ausgespielt werden. Und wir dürfen unseren Wunsch nach Frieden nicht gegen den Frieden in der Ukraine ausspielen. Das ist kein „Aber“, sondern ein „Und“. Denn die Sicherheit der Ukraine ist auch die unsrige.
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Der Papst hat der Ukraine nahegelegt, die weiße Flagge zu hissen.
Baerbock: Ich kann gut verstehen, dass man sich manchmal zurücksehnt in eine Zeit, in der Frieden selbstverständlich schien. Auch meine Generation hatte das große Glück, in solch einer Zeit heranzuwachsen. Aber wir können die Realität ja nicht ausblenden.
Bedeutet?
Baerbock: Friedenspolitik zu betreiben in einer Zeit, in der Russland, die USA und Europa aus einem gemeinsamen Interesse heraus über Abrüstung sprachen, ist etwas anderes als Friedenspolitik zu betreiben in einer Zeit, in der Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die europäische Friedensordnung führt. Wer das verkennt oder davon nichts wissen will, der stärkt nicht den Frieden und das internationale Recht. Sondern der stärkt das Recht des Stärkeren. Denn wenn die Ukraine sich nicht mehr verteidigen kann, weil wir ihr nicht genug Waffen liefern, stehen Putins Truppen morgen an der ukrainisch-polnischen Grenze – nur acht Autostunden von Berlin entfernt. Die Ukraine sichert auch unseren Frieden. Und diesen Frieden müssen wir nicht nur bis zur nächsten Wahl schützen, sondern auch langfristig – für die Zukunft unserer Kinder.
Stellen Sie sich auf eine weitere Eskalation des Kriegs in der Ukraine ein?
Baerbock: Es gibt in Putins Krieg längst kein Limit der Brutalität mehr. Er macht mehr als deutlich, dass er für rationale Argumente und Werte der Menschlichkeit nicht erreichbar ist. Und verhandeln möchte er schon gar nicht. Meine afrikanischen Kollegen haben versucht, zumindest die verschleppten Kinder wieder zu ihren Eltern zu bekommen. Aber Putins Antwort darauf waren nur mehr Bomben und weitere Entmenschlichung, auch im eigenen Land. Das ist fatal, das ist tragisch – für die Menschen in der Ukraine und auch für die Menschen in Russland. Wir lassen uns durch Putins Kurs der Entmenschlichung aber nicht einschüchtern. Denn Frieden und Menschlichkeit in Europa können wir nur durch eigene Stärke gewinnen.
Was würde die Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern am bisherigen Kriegsverlauf ändern?
Baerbock: Ich habe mich zu Taurus umfassend geäußert und glaube nicht, dass uns die fortwährende öffentliche Diskussion zu Taurus einen Schritt weiterbringt. Ein Teil der russischen Kriegspropaganda dient dem Zweck, die westlichen Demokratien zu spalten und zu destabilisieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Das gilt erst recht, wenn wir vor Wahlen stehen – wie jetzt vor den Europawahlen oder Landtagswahlen in Deutschland.
Haben Sie inzwischen verstanden, warum Bundeskanzler Olaf Scholz der Ukraine partout keine Taurus liefern will? Hat er sich von Putin Angst machen lassen?
Baerbock: Der Kanzler hat keine Angst vor Putin.
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