Parlament - In Teilen Afghanistans Abstimmung wegen Anschlagsgefahr verschoben / Islamisten töten Kandidaten

Angst vor dem Terror wählt mit

Von 
Agnes Tandler
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Afghanische Soldaten tragen den Sarg eines Parlamentskandidaten, der bei einem Bombenangriff getötet wurde. © dpa

Kabul. Mehr als 40 Attentate hatte General Abdul Raziq bereits überlebt. Doch dann verließ ihn sein Glück. Der mächtige Polizeichef der afghanischen Südprovinz Kandahar wurde von seinem eigenen Bodyguard erschossen: im Auftrag der aufständischen Taliban. Die kaltblütige Ermordung von Raziq kurz vor den Parlamentswahlen löste eine Schockwelle in Afghanistan aus.

Gestern verschob die Wahlkommission aus Sorge um die Sicherheit die Wahl in der Provinz mit rund 1,5 Millionen Einwohnern um eine Woche. Die Bevölkerung sei wegen des Schocks „nicht in der Verfassung zu wählen“, begründete ein Sprecher der Wahlkommission die Entscheidung. Manche zweifeln, ob die wichtige Provinz, deren gleichnamige Hauptstadt Kandahar die zweitgrößte Stadt des Landes ist, nun überhaupt abstimmen wird.

Veränderte Machtkonstellation

„Wie sollen wir noch an etwas glauben?“, fragt Ahmand Kayhan in Kabul. Für Kayhan wie für viele andere Afghanen galt Raziq als Patriot und Hoffnungsträger – trotz der Vorwürfe, dass der junge Kommandeur Taliban-Gefangene folterte und auch sonst nicht ganz zimperlich war. Raziq war ein erbitterter Gegner der Islamisten: Sein Vater und Onkel wurden 1994 von den Taliban umgebracht. Mit der Ermordung des 39-Jährigen ist den Taliban ein entscheidender Schritt zur Beherrschung des Südens von Afghanistan gelungen: Raziq, der einer einflussreichen Familie entstammt, galt als ein Bollwerk gegen die Islamisten. Kurz vor der heute beginnenden Parlamentswahl sendet der Tod von Raziq ein fatales Signal aus. Seit Monaten schon warnen die Aufständischen die Bevölkerung davor, zur Wahl zu gehen und versuchen, die Kandidaten einzuschüchtern. Bereits zehn Wahlkandidaten sind in den vergangenen Wochen getötet worden, zwei weitere wurden entführt und vier verwundet.

Taliban drohen offen

Die Taliban drohen auch Polizei und Armee: „Nichts soll unversucht gelassen werden, um die Wahl zu stoppen und zu einem Misserfolg zu machen“, erklärte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid. Es ist erst das dritte Mal seit dem Sturz der Taliban, dass in Afghanistan ein Parlament gewählt wird. Über drei Jahre lang war der Termin für das Rennen um die 249 Sitze in der Volksvertretung in Kabul verschoben worden, weil die Erinnerung an die chaotische Präsidentschaftswahl 2014 noch frisch waren.

Die umstrittene Abstimmung löste damals eine monatelange politische Krise aus – bis zum Schluss blieb unklar, welcher der beiden Kandidaten eigentlich die meisten Stimmen erhalten hatte. Fehlende Transparenz und mangelnde Sicherheit stellen auch diesmal die Legitimität der Wahl in Frage: Furcht vor Anschlägen und Racheakten der Aufständischen machen die Abstimmung in fast allen Provinzen zu einem persönlichen Risiko. Nach Schätzungen der US-Aufsichtsbehörde für den Wiederaufbau Afghanistans sind nur noch etwa 56 Prozent der Distrikte des Landes unter der Kontrolle der Regierung in Kabul.

Im August überrannten die Taliban die Stadt Ghasni, nur gut 100 Kilometer von Kabul entfernt. Erst nach tagelangen Kämpfen konnten Regierungstruppen die Stadt wieder befreien. Aus Sicherheitsgründen werden in Ghasni gar keine Wahlen abgehalten. Überhaupt hatten sich dort nur neun Prozent aller Wähler registrieren lassen. Auch in mindestens neun anderen Orten werden Wahllokale Angst vor Anschlägen nicht öffnen.

Unklare Bevölkerungszahlen

Wie bei jeder Wahl in Afghanistan lauten die entscheidenden Fragen, wie viele Wähler es gibt und wie viele Stimmen rechtmäßig abgegeben wurden. Weil im Land seit Jahrzehnten Krieg herrscht, ist unklar, wie groß Afghanistans Bevölkerung eigentlich ist. Die letzte Volkszählung fand in den 1970er Jahren statt. Schätzungen zur Größe der afghanischen Bevölkerung rangieren zwischen 28 und 34 Millionen.

Vergleicht man die Zahl der registrierten Wähler mit der geschätzten Zahl der Wahlberechtigten, so gibt es erhebliche Unterschiede in den einzelnen Provinzen, die nichts Gutes verheißen lassen. In manchen Provinzen übersteigt die Zahl der registrierten Wähler die Zahl der geschätzten Einwohner.

In Paktia etwa sind 165 Prozent der geschätzten männlichen Wähler registriert worden – und dies, obwohl die Provinz eine der unsichersten des Landes ist. Streit über die Legitimität der Abstimmung ist damit programmiert.

Die Wahl gilt als Test für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr. Der Konflikt zwischen der vom Westen gestützten Regierung in Kabul und den aufständischen Taliban dauert inzwischen mehr als 17 Jahre.

Korrespondent

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