Washington. Harry Reid ist normalerweise kein Mann lauter Töne. Man kann sogar sagen, dass er unter den einhundert US-Senatoren zu den leisesten zählt, ein Redner, der bisweilen fast flüstert und ganze Silben verschluckt, der lieber in Hinterzimmern an Gesetzentwürfen feilt, statt hinter Mikrofonen das große Wort zu schwingen. Mit Blick auf Olympia allerdings hat sich der Fraktionschef der Demokraten vom patriotischen Bazillus anstecken lassen. Die Kostüme, in denen Amerikas Athleten zur Eröffnungsfeier in London marschieren, würde Reid am liebsten in Flammen aufgehen lassen: "Ich denke, sie sollten diese Uniformen auf einen großen Haufen werfen, alles anzünden und noch einmal von vorn beginnen."
Optisch hat Reid nichts auszusetzen. Marineblaue Blazer, rote Krawatten, weiße Röcke beziehungsweise Hosen: Die Farben des Sternenbanners sind alle vertreten. Allerdings ließ Ralph Lauren, ein amerikanisches Modehaus, wohlgemerkt, die Sachen in China schneidern, was nun zu einem Aufschrei der Entrüstung führt.
Das Bemerkenswerte ist, dass der Zorn keine Parteigrenzen kennt. Normalerweise blockieren Demokraten und Republikaner einander, wo es nur geht. In Sachen Olympia-Outfit sind sie sich einig. "Eigentlich müssten sie es in unserem Olympischen Komitee besser wissen", schimpft John Boehner, republikanischer Speaker des Repräsentantenhauses. "Amerikanische Sportler sollten amerikanische Sachen tragen", sekundiert Nancy Pelosi, Boehners Amtsvorgängerin und schärfste Widersacherin.
Problem der Handelsüberschüsse
Sherrod Brown, ein Senator aus Ohio, bringt nun so etwas wie eine Last-Minute-Lösung ins Spiel. Hugo Boss möge "Team USA" rasch neu einkleiden, vorzugsweise mit Hilfe einer Hugo-Boss-Fabrik in Cleveland, Ohio.
Der Streit erinnert an eine abseitige Episode des Winters 2002. Bei der olympischen Zeremonie in Salt Lake City trugen die Hoffnungsträger des Gastgeberlands Barette aus Kanada, was im Nu für Ärger sorgte. Diesmal ist der Debattenton noch deutlich schärfer, zumal sich im Wahlkampf vieles um die diffuse Angst vor der neuen Supermacht China dreht. Für Präsidentschaftskandidat Mitt Romney stehen Handelskonflikte mit Peking auf der Agenda ganz oben. Geht es nach dem Ex-Gouverneur, wird das Weiße Haus demnächst mit härteren Bandagen kämpfen, ganz gleich, ob es sich um abgekupferte Patente, Währungsmanipulationen oder Zollbarrieren handelt. Barack Obama wiederum wirft seinem Herausforderer vor, Tausende Jobs ins Reich der Mitte ausgelagert zu haben, als es darum ging, mit einer Beteiligungsgesellschaft Romneys Maximalprofit zu erzielen.
An den Fakten, den enormen chinesischen Überschüssen im Handel mit den Vereinigten Staaten, hat sich wenig geändert. 2011 belief sich das Plus auf 202 Milliarden Dollar, das waren 18 Prozent mehr als 2008. Dass selbst das iPad in Chengdu hergestellt wird, ist eine Tatsache, die Politiker wie Harry Reid seit langem ebenso lautstark wie folgenlos beklagen.
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