Russland

„Alle sind schuld!“

Nach dem Dammbruch am Ural wollen die Menschen Antworten, doch der Gouverneur weist jegliche Verantwortung von sich

Von 
Inna Hartwich
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Polizeibeamte bewachen in Orsk einen Bereich, in dem Menschen in Gummibooten eine überflutete Straße befahren. © Anatoly Zhdanov/Kommersant Publishing House/AP/dpa

Moskau. Während das Wasser noch in den Straßen von Orsk steht und sich nur langsam zurückzieht, versammeln sich mehrere Hundert Menschen vor der Verwaltung der Stadt. Eine Lenin-Statue thront vor dem Theater hinter ihnen, die Tram ruckelt am Platz der Komsomolzen vorbei. Hierher hat es der Ural nicht geschafft, der einige Kilometer weiter wegen eines mehrfachen Dammbruchs knapp 7000 Häuser in dieser Industriestadt an der Grenze zu Kasachstan überschwemmt hatte.

„Wir wollen nur eins wissen: Was wird aus unseren Häusern? Was wird aus uns?“, schreit eine Frau fast. „Wie sollen wir weiterleben? Wer übernimmt die Verantwortung?“, fragt ein Mann. Sie sind wütend, weil sie sich auf sich allein gestellt fühlen. Die Behörden hatten die Menschen gewarnt, bloß nicht bei einer „nicht sanktionierten Versammlung“ mitzumachen. Vorm ansteigenden Wasser des Urals warnten sie die Menschen dagegen zu spät. Es ist dieser Unmut, der die Orsker auf die Straße treibt, in einem Land, in dem Demonstrieren gefährlich ist und Fragen unerwünscht sind.

Die Frauen und Männer umkreisen Wassili Kosupiza, wollen Antworten von ihrem Bürgermeister. Er war es, der sie noch am vergangenen Mittwoch völlig gelassen zur Ruhe bringen wollte. Der Damm werde schon halten, es gebe keine Gefahr, hatte dieser gesagt. Keine zwei Tage später stand die Altstadt von Orsk komplett unter Wasser. Kosupiza kommt bei diesem spontanen Protest kaum zu Wort. Antworten kann er nicht liefern. „Verschwinde“, schreien die Menschen. „Tritt ab!“, „Schande!“. Den Menschen geht es schlicht ums Überleben, um ein Dach über dem Kopf – und doch auch um etwas Politisches: Die Verantwortung dafür, dass hier trotz Bedenken, auch aus dem benachbarten Kasachstan, offensichtlich vieles schief gelaufen ist.

Entwertung und Bagatellisierung der Sorgen sind alltäglich

Die Mächtigen aber sind in der Kommunikation mit den Menschen kaum geübt. Wie losgelöst sie von den Problemen des aufgebrachten Volks sind, zeigt sich auch in Orsk, als Denis Pasler, der Gouverneur des Gebietes Orenburg, zu einigen Demonstranten spricht. „Das sind halt die Bedingungen, unter denen wir leben. Es gab den Herbst, den Winter, den Regen und jede Menge anderer Faktoren“, sagt er in der Orsker Stadtverwaltung. Eine „unkontrollierbare Horde“ aber wolle „einen einzigen Verantwortlichen finden“, meint er. Diesen „einzigen“ werde es nicht geben. „Wir sind alle schuld. Jetzt sollten wir uns als echte Patrioten vereinen, das überstehen und als stärker Gewordene da rausgehen.“

Pasler schaut starr ins Gesicht der Notleidenden und sagt: „Glaubt ihr, ihr seid die einzigen, die darunter leiden? Ich habe meinen ersten Urlaub seit fünf Jahren nicht angetreten, bin hier bei euch, hatte keine Zeit, mich zu waschen, mich umzuziehen. Der ganzen Region geht es nicht gut.“ Entwertung und Bagatellisierung der Sorgen von anderen sind alltäglich in Russland. Eine Schuld will niemand eingestehen. Pasler verspricht, dass „alles wiederhergestellt“ werde, Kompensationen würden ausgezahlt.

Die Wasserpegel steigen derweil weiter. Nun nicht mehr in Orsk, sondern weiter westlich. Das Wasser zieht in die Gebietshauptstadt Orenburg. Deren Bürgermeister warnt seine Einwohner immerhin deutlich, als er sagt: „Es wird so schlimm wie nie.“

Korrespondent

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