Interview

Wieso ein Mannheimer Bildungsexperte Schulnoten sinnvoll findet

Es ist ein Reizthema: In Baden-Württemberg soll es in einem Modellversuch keine Noten mehr für die Grundschüler geben. Im Interview erklärt der Mannheimer Bildungsexperte Oliver Dickhäuser, warum er skeptisch ist.

Von 
Walter Serif
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In den ersten zwei Klassen gibt es in der Grundschule noch keine Noten, das soll im Modellversuch auch für die Dritt- und Viertklässler gelten. © dpa

Mannheim. Herr Dickhäuser, nächstes Schuljahr startet in Baden-Württemberg der Modellversuch „Grundschule ohne Noten“. Was halten Sie davon?

Oliver Dickhäuser: Mir fehlen noch Informationen, um eindeutig sagen zu können, ob das eine gute Idee ist. Klar ist aber, dass sich der Streit über die Bedeutung von Noten darauf konzentriert, welchen Wert Grundschulen legen auf die Lernförderung einerseits und die Überprüfung von Lernerfolgen durch Klassenarbeiten und Noten anderseits. Das ist eine wertvolle Debatte.

Aber?

Dickhäuser: Ich bin skeptisch, ob man einen guten Mix allein dadurch bekommt, dass man sagt: Wir verzichten jetzt auf Noten.

Schulen und Schüler haben besonders unter Corona gelitten. Lassen sich aus den vergangenen zwei Jahren Rückschlüsse auf die Lernkultur ziehen?

Dickhäuser: Ich finde schon. Gleich im ersten Jahr der Pandemie musste man sich die Frage stellen, wofür die wenige Präsenzzeit reserviert sein soll. Da gab es starke Stimmen aus Lehrerverbänden, die meinten, dass die Prüfungen Vorrang hätten. Man hat also gesehen: Präsenz als kostbares Gut wird reserviert für die Leistungskontrolle, nicht aber für die Unterrichtung der Schülerinnen und Schüler. Ich glaube, dass man daraus schon ableiten kann, dass ein gewisses Missverhältnis herrscht, das eben schon in der Grundschule anfängt.

Oliver Dickhäuser



  • Oliver Dickhäuser (51) wurde in Hemer (NRW) geboren. Er studierte Psychologie und Lehramt an der Uni Bielefeld.
  • Nach Stationen in Hildesheim, Gießen und Erlangen-Nürnberg ist er seit 2008 Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Mannheim. Er forscht zu motivationsförderlichen Leistungsrückmeldungen sowie zur Notenvergabe durch Lehrkräfte.

In den ersten zwei Jahren gibt es keine Noten. Sie befassen sich ja viel mit dem kognitiven Denken. Kann man die Leistung von Kindern in der dritten oder vierten Klasse mit Zensuren bemessen?

Dickhäuser: Nicht alle Arten der Leistungen und Kompetenzen der Schülerinnen und Schülern eignen sich gleich gut. Aber in den Kernfächern ist eine valide Bewertung in Form von Noten schon möglich. Noten sind nicht sinnlos. Voraussetzung ist, dass die Lehrer den Schülern sagen, welche Erwartungen sie haben, und sie dann die Klassenarbeiten auch nach einem einheitlichen Schema korrigieren.

Meine Tochter hat Jura studiert, neben der Note gab es inhaltliche Kommentare ihrer Leistung. Zum Beispiel: Sie haben die Systematik drauf, Ihre Argumentation war aber nicht zwingend. Sollten nicht auch die Schulen ihre Notengebung mit einem entsprechenden Kommentar erweitern?

Dickhäuser: Das ist jedenfalls eine sehr gute Möglichkeit. Es gibt dazu auch empirische Studien, die zeigen, dass man die Wirkung von Leistungsrückmeldungen durch die Vergabe von spezifischen Kommentaren motivationsförderlich verbessern kann. Diese sollten zeigen, was die Schülerin oder der Schüler besonders gut und weniger gut kann. Die Kommentare sollten auch die Lernentwicklung deutlich machen. Die motivationsförderliche Wirkung sehen wir trotz der Vergabe von Noten. Zensuren sind also nicht automatisch ein Motivationskiller. Die Ziffer allein sagt aber nicht genug aus, deshalb sollte sie mit Kommentaren ergänzt werden.

Ist das für Sie ein Muss?

Dickhäuser: Nein, es gibt viele Möglichkeiten für Feedback. Zum Beispiel ein Gespräch im Unterricht darüber, was die Lernenden können und was eben noch nicht.

„Sechs, setzen!“ wäre Ihnen also zu unspezifisch?

Dickhäuser: Ja. Dieser lapidaren Rückmeldung kann ich nicht entnehmen, was ich jetzt genau falsch gemacht habe und warum ich mich schleunigst hinsetzen soll.

Das Problem bei der „Grundschule ohne Noten“ ist, dass nach der vierten Klasse die Entscheidung ansteht, wie es danach mit den Schülerinnen und Schülern weitergehen soll. Ausschlaggebend sind da ja normalerweise die Noten.

Dickhäuser: Ich weiß nicht, wie das dann gehandhabt werden soll. Die Schüler und die Eltern brauchen eine Orientierung. Bisher haben die Ziffern-Zeugnisse das in Teilen geliefert. Es müssen dann neue Instrumente her, wenn das nicht ein Blindflug werden soll. Die Berichtszeugnisse in Klasse 4 müssen dann so abgefasst werden, dass sich aus ihnen ableiten lässt, an welcher Schule es dann weitergehen könnte.

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Welche Erkenntnisse lassen sich denn aus der Schulempfehlung ziehen, die in Baden-Württemberg ja nicht mehr verpflichtend ist?

Dickhäuser: Sehr interessante. Zum Beispiel, wie sehr der Wechsel an die weiterführende Schule mit dem Elternhaus verknüpft ist. Da gibt es eine soziale Koppelung

Ich hatte eine Empfehlung fürs Gymnasium. Die Lehrerin meinte, ich solle dennoch besser in die Realschule gehen. Ich stamme aus einem einfachen Arbeiterhaushalt.

Dickhäuser: Unabhängig von Ihrem persönlichen Erlebnis zeigen Untersuchungen, dass die soziale Koppelung bei verbindlicher Schulempfehlung geringer ist als dort, wo die Entscheidung in der Hand der Eltern liegt. Das heißt also, dass ein größerer Teil von Kindern aus sozial schwachen Familien aufs Gymnasium kommt, wenn es eine verbindliche Grundschulempfehlung gibt. Deshalb stellt sich die Frage, ob es klug war, diese in Baden-Württemberg abzuschaffen.

Die soziale Herkunft entscheidet aber unabhängig davon in der Regel über den Schulerfolg?

Dickhäuser: Das stimmt. Dieses Problem bleibt eine der großen Baustellen unseres Schulsystems. Das hat der aktuelle IQB-Bildungstrend mit den Daten der Grundschulen von 2021 bestätigt. Da sind wir in Deutschland auf keinem guten Weg.

Ich war in der Schule ein fauler Hund, mein Abi war mit 2,7 auch nicht berauschend. Welche Aussagekraft hat das Zeugnis mit Blick auf den späteren Berufsweg?

Dickhäuser: Anhand der Abiturnote lässt sich spätere Leistung bis zu 25 Prozent prognostizieren. Das ist nicht wenig. Ganz so fehlerbehaftet scheint die Notengebung dann doch nicht zu sein.

Wirklich? Im Umkehrschluss heißt das: Bei 75 Prozent der Unterschiede in späteren Erfolgen spielt die Abiturnote keine Rolle.

Dickhäuser: Das bestreite ich nicht. Es ist aber eben nicht so, dass die Abiturnote unbedeutend ist.

Noch mal zurück zum Modellversuch „Grundschule ohne Noten“. Ist dieser überhaupt aus wissenschaftlicher Sicht seriös?

Dickhäuser: Gute Frage. Ich denke, man kann aber ein paar Eckpunkte benennen, die berücksichtigt werden müssen, damit eine gute Evaluation herauskommt. Am Versuch beteiligen sich Schulen nur nach ihrem eigenen Willen und in Abhängigkeit von ihrem Engagement. Das sind also besondere Schulen. Man muss schauen, dass mit ähnlichen Schulen verglichen wird, oder Unterschiede statistisch kontrollieren.

Das wird mir zu speziell. Das Kultusministerium will bei dem Modellversuch auch eine gewisse regionale Streuung. Ist das sinnvoll?

Dickhäuser: Als Bildungsforscher würde ich sagen, das wäre für mich nicht so wichtig. Da spielen wahrscheinlich politische Gründe eine Rolle. Klar ist aber: Man kann jetzt nicht nur Schulen zum Beispiel aus bildungsbürgerlichen Sozialräumen nehmen. Die Milieus sollten unterschiedlich sein.

Dass nur Schulen teilnehmen, die das wollen, ist aber gut, oder? Die Verweigerer würden das noten-freie Lernen womöglich sabotieren – auf dem Rücken der Schüler.

Dickhäuser: Das sehe ich auch so. Wenn man eine Schule beteiligt, die von der Idee nichts hält, gibt man ja der Idee, selbst wenn sie gut wäre, keine Chance, ihr Potenzial in den Daten zu zeigen.

Redaktion Reporter für Politik und Wirtschaft

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